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Sterben lernen, leben lernen: 

Vier Tage mit Elisabeth Kübler-Ross

 


Anmerkung 2021
Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004) war eine s
chweizerische Ärztin, die von 1958 bis zu ihrem Tod in den Vereinigten Staaten lebte. Sie hat entscheidend dazu beigetragen, die Mauern des Schweigens zu durchbrechen, die bis vor wenigen Jahrzehnten Tod und Sterben umzingelten und sterbende Menschen isolierten. Ihre Tätigkeit auf dem Gebiet der Sterbeforschung und Sterbebegleitung fand weltweite Anerkennung. Jahrelang stand ihr erstes, 1969 erschienenes Buch «On Death & Dying» («Interviews mit Sterbenden») auf den Bestsellerlisten vieler Länder. Im Zeitraum von zehn Jahren wurden ihr 28 Ehrendoktorate verliehen – aus USA, Kanada, Australien, aber keines aus Europa, auch nicht aus der Schweiz.
Ich hatte das Glück, Elisabeth Kübler-Ross im Jahre 1980 zu begegnen und an einem ihrer Workshops über «Leben, Tod und Übergänge» teilzunehmen. Wie es dazu kam, erzähle ich in der folgenden Reportage.

 


Es ist Montagmorgen, kurz vor neun. Vor einer knappen Stunde bin ich in San Diego weggefahren, der südlichsten US-Hafenstadt am Pazifik, wenige Kilometer von der mexikanischen Grenze entfernt. Den Freeway nach Norden habe ich kurz vor der Kleinstadt Escondido verlassen. Auf den Hügeln links und rechts hat die unablässig gleissende Sonne die karge Vegetation braungebrannt. Nichts wächst hier ohne künstliche Bewässerung. Schroffe Bergkanten schneiden sich am Horizont in den tiefblauen Himmel. Die unbeweglichen Silhouetten scheinen unwirklich und unerreichbar, als markierten sie eine endgültige Grenze. Dahinter beginnt die Wüste.


Zuoberst auf einem Hügel finde ich, wie es mir beschrieben wurde, ein dunkelbraunes, flaches Holzhaus. Blumen schmücken Treppe und Eingang. Die Tür ist angelehnt. Ein kurzer Gang führt in einen geräumigen Livingroom, der mit wenigen einfachen Möbeln wohnlich und persönlich eingerichtet ist. An den Wänden hängen indianische Kunst- und Gebrauchsgegenstände. Vor der Holztheke, die den Raum von der Küche abtrennt, steht – auf eine Schreibmaschine hämmernd – eine kleine, unscheinbare Frau. Sie trägt Sandalen, helle Baumwollhosen, eine bedruckte Bluse. Das kurzgeschnittene braungraue Haar scheint nicht auf die Pflege eines Friseurs angewiesen. Ich zögere, sie beim Schreiben zu unterbrechen. «Frau Kübler-Ross?» – «Kommen Sie», ruft sie mit warmer, bestimmter Stimme und streckt mir die Hand entgegen, als wäre ich ein alter Bekannter. «Wollen Sie eine Tasse Kaffee? Ich brauche auch noch eine. Ich bin kein Morgenmensch, vor zehn Uhr ist mit mir nicht viel anzufangen.» Sie arbeitet bis spät in die Nacht hinein. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr schreibt sie ihre Bücher.


Während sie den Kaffee zubereitet, mustere ich die frisch abgefüllten Einmachtöpfe und Marmeladengläser, die wie in einem vorbildlichen Schweizer Haushalt auf dem Küchentisch prangen. «Das sind Früchte aus meinem Garten», erklärt Elisabeth Kübler-Ross. «Ich mach das furchtbar gern, wenn ich Zeit habe. Nicht für mich, ich bin ja nur selten hier, aber ich schenke sie meinen Freunden.»
 

«Wenn ich Zeit habe…» Elisabeth Kübler-Ross ist während fünf bis sechs Tagen pro Woche unterwegs, reist innerhalb der USA, oft aber auch in Übersee von einem Vortrag zum andern, veranstaltet Workshops und trifft Menschen, die ihre Hilfe suchen. Ihr Terminkalender ist auf anderthalb Jahre ausgebucht. Daneben bewältigt sie Berge von Briefen. Tausende von Menschen schreiben ihr, suchen ihren Rat und ihre Hilfe. Die Briefe werden nach Dringlichkeit sortiert – Schwerkranke und Sterbende haben Vorrang. Zuoberst auf den Briefstapel kommen Briefe von Kindern zu liegen: Ihnen gibt Elisabeth Kübler-Ross erste Priorität. Als ich hereinkam, war sie gerade daran, einen besonders dringenden Brief eigenhändig zu beantworten. Eine einzige Woche im Jahr ist unantastbar. Die verbringt sie mit ihren Kindern Kenneth (22) und Barbara (19), die beide noch in der Berufsausbildung stecken. «Dann machen wir irgendetwas Verrücktes. Wir planen nichts im Voraus. Meine Kinder entscheiden, was wir unternehmen.»
 

Woher nimmt Elisabeth Kübler-Ross die Kraft, um ein solches Pensum durchzustehen? Ihre Antwort ist ebenso einfach wie überraschend: «Man bekommt immer so viel Kraft, wie man wirklich braucht.» Das ist kein Bonmot. Ich spüre, dass sie es aus tiefster Überzeugung sagt, dass sie genau weiss, wovon sie spricht.
 

Ich hatte mich eigentlich für ein Interview verabredet und war überrascht gewesen, dass mich die ausgebuchte «Death-and-Dying-Lady» – scherzhaft betitelt sie sich selber so – kurzfristig empfing. Die zweite Überraschung erlebe ich jetzt. Bevor ich dazukomme, mein Aufnahmegerät auszupacken, fragt mich Elisabeth Kübler-Ross unvermittelt: «Warum kommen Sie nicht an meinen Workshop?» Ich weiss nicht, was sie meint. «Ich habe diese Woche einen Workshop in Escondido», erklärt sie. «Er beginnt heute Nachmittag um zwei und dauert bis Freitagmittag. Wenn Sie wollen, können Sie den Freitagvormittag auslassen. Wir sind zwar seit Monaten ausgebucht, aber ich kann Sie reinschmuggeln. Ich habe das Gefühl, dass Sie kommen sollten, und ich verlasse mich immer auf meine Intuition. Überlegen Sie es sich, während ich ein Telefongespräch erledige.»
 

Mit einem solchen Angebot habe ich nicht gerechnet. Doch ohne nachzudenken, weiss ich, dass ich zusagen werde. Elisabeth Kübler-Ross scheint nicht überrascht. Sie nickt und sagt: «Wissen Sie, ich glaube nicht an Zufälle.» Fürs Interview werden wir an einem der folgenden Tage besser Zeit finden. Jetzt möchte sie mir unbedingt noch ihren Garten zeigen. An einem Hang unterhalb ihres Hauses zieht sie Gemüse und Früchte. «Schweizer Qualität», versichert sie mir; sie lässt die Samen aus der Schweiz kommen. Weiter unten steht ein Holzschuppen: aussen verwittert, doch innen zu einem gemütlichen Bijou ausgebaut. Hier wohnen ihre Kinder, wenn sie für ein paar Tage auf Besuch kommen. In der Mitte des kleinen Raumes steht ein Webstuhl. «Wenn ich Ruhe brauche und von niemandem gestört sein will, setze ich mich an den Webstuhl. Hier erreicht mich kein Telefon», erklärt Elisabeth Kübler-Ross. Sie lacht, als ich an der Wand auf ein altertümliches Telefon hinweise. «Das habe ich für meine Kinder eingerichtet. Heben Sie das Sprechrohr mal ab!» Statt des Summtons erklingt Musik. Sie hat in den alten Holzkasten ein Radio einbauen lassen und ist auf dieses Spielzeug stolz wie ein Kind.
 

Ich bin erstaunt über diese Frau. Mein Besuch hat fast zwei Stunden gedauert. Es ist der einzige Tag dieser Woche, den sie zu Hause verbringt, und um zwei Uhr beginnt ihr Workshop. Ausser einem viertelstündigen Telefoninterview, das sie einer britischen Radiogesellschaft gegeben hat, sind von der Hektik ihres Lebens und der gigantischen Arbeitslast, der sie ausgesetzt ist, nicht das Geringste zu spüren. Ich habe den Eindruck, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, für den sie da ist. In den folgenden Tagen sehe ich mehrmals zu, wie sie sich beim Essen oder während einer Pause mit andern unterhält. Auch wenn das Gespräch nur fünf oder zehn Minuten dauert, immer spüre ich eine totale Zuwendung, eine unglaublich wache Präsenz, die vorbehaltlos dem Gesprächspartner und nur ihm gilt.
 

Die Workshop-Teilnehmenden haben sich gegen Mittag in einem Motel in Escondido versammelt. Es sind mehrheitlich Frauen, sie kommen aus allen Teilen der USA, ein paar wenige aus anderen Ländern. In einem alten, gelben Schulbus, dessen Federung völlig ausgeleiert ist, fahren wir eine halbe Stunde in eine bergige Landschaft hinauf. Der Workshop findet in einer Ranch statt, einer Holzbaracke an einem Pinienhang. Die etwa 60 Teilnehmenden füllen den Raum. Wir sitzen auf Kissen und Matratzen auf dem Boden, so dicht zusammen, dass man kaum die Beine ausstrecken kann. Für Kranke, die nicht auf dem Boden sitzen können, stehen einige Sessel bereit. Elisabeth Kübler-Ross und zwei ihrer Mitarbeiter nehmen an einer der Längswände auf einem Sofa Platz.
 

«Wir nennen uns hier beim Vornamen», erklärt Elisabeth Kübler-Ross zu Beginn. «Wer mich in Zukunft ‹Dr. Ross› nennt, zahlt 10 Dollar Busse. ‹Dr. Kübler-Ross› kostet 25 Dollar und ‹Ms.› 100 Dollar.» Ich möchte mich auch hier an diese Regel halten und die auf Titel und Ehrungen wenig bedachte Pionierin im Folgenden einfach Elisabeth nennen.
 

«Life, Death and Transitions» (Leben, Tod und Übergänge) heisst der Titel des Workshops. Elisabeth, die alle zwei bis drei Monate einen solchen Workshop durchführt, setzt die Teilnehmenden aus drei Gruppen zusammen. Etwa ein Drittel sind Schwerkranke, Angehörige von Sterbenden und Menschen, die schwere Verluste erlitten haben. Ein anderes Drittel sind Professionelle, die Kranke und Sterbende betreuen: Pflegefachleute, Ärztinnen, Psychologen, Sozialarbeiterinnen, Pfarrer. Die Übrigen sind Interessierte ohne spezifisches Motiv, Menschen, die an sich arbeiten wollen. Berufs- und Milieuunterschiede sind – das zeigt sich im Verlauf des Workshops – ohne jede Bedeutung. Was zählt, ist Erlebtes und Erlittenes, das also, was im Leben jedes Einzelnen prägend und bedeutsam ist. Der Workshop richtet sich nicht primär an leidende oder besonders hilfebedürftige Menschen. Jeder Mensch – das hat Elisabeth in Tausenden von Begegnungen erfahren – trägt einen Berg von «Unfinished business», von unerledigten Dingen mit sich herum, die ihn oder sie daran hindern, voll und wirklich zu leben.
 

«Sterbende sind die besten Lehrer»: Elisabeth wird nicht müde, diesen Satz zu predigen. Alles, was sie selbst über Tod und Sterben heute weiss, hat sie von kranken, sterbenden Menschen gelernt: dass sie als Menschen und nicht nur als Patienten ernst genommen werden möchten, dass Angst, Verstellung und falsche Rücksichtnahme seitens ihrer Angehörigen sie schwer bedrücken, dass sie – mit wenigen Ausnahmen – offen und aufrichtig über ihre Empfindungen und den nahen Tod sprechen können und dies dringend wünschen, dass sie in ihrer vertrauten Umgebung zu Hause sterben möchten.
 

In Tausenden von Gesprächen, die Elisabeth in den letzten zwölf Jahren mit todkranken Menschen geführt hat, erfuhr sie immer wieder das verzweifelte Eingeständnis, nicht oder nur halb gelebt zu haben. Erst in der Konfrontation mit dem Tod entdecken viele Menschen sich selbst, den Wert ihres Lebens, den Reichtum, den sie nicht genutzt haben. Oft hat Elisabeth Sterbende sagen hören: Wenn ich noch ein paar Jahre vor mir hätte, ich würde ganz anders zu leben beginnen. Und: Warum habe ich diese Möglichkeiten nicht früher entdeckt?
 

In ihrem Buch «Leben bis wir Abschied nehmen» hat Elisabeth – zusammen mit dem Fotografen Mal Warshaw – todkranke Menschen porträtiert, die im letzten Abschnitt ihres Lebens ungeahnte Kräfte mobilisierten und in neu gewonnener Bewusstheit zu sich selber fanden. Über Beth, eine 42-jährige, an Krebs erkrankte Frau, schreibt Elisabeth: «Der Grund dafür, dass bei Patienten wie Beth solch eine überquellende Kreativität wach wird, ist wohl darin zu sehen, dass wir alle in der Tiefe unseres Wesens viele verborgene Begabungen haben, die aber allzu oft erstickt werden, weil wir unsere kostbare Energie gewöhnlich in materialistischen, im wahrsten Sinn des Wortes zu nichts führenden Kämpfen verschwenden. Sobald wir es fertigbringen, uns von unseren Ängsten zu befreien; sobald wir den Mut aufbringen, unser negatives Rebellieren in einen positiven Nonkonformismus zu verwandeln; sobald wir den Glauben daran gewinnen, dass wir uns über unsere eigene Angst, Scham, Schuld und Negativität erheben können, werden wir kreativer und freier leben als zuvor. […] Solche Menschen werden oft zu Dichtern; sie zeigen Gaben und Fähigkeiten, die alles, was Herkunft und Bildung ihnen mitgegeben haben, weit hinter sich lassen.»
 

Dass solche Wandlung und Selbstfindung nicht erst in Todesnähe, sondern jederzeit möglich ist: dies zu vermitteln ist das Ziel der Workshops, die Elisabeth durchführt. Sie will Gesunden und Kranken jeden Alters dazu verhelfen, «ihre negativen Gefühle von neuem zu durchleben und aus sich herauszulassen, damit sie endlich Frieden finden und von der gewaltigen Spannung befreit werden, die erforderlich ist, um alle diese negativen Gefühle unter Kontrolle zu halten».
 

Zweieinhalb Tage des Workshops nimmt diese Katharsis, diese «Läuterung», in Anspruch. Elisabeth fordert die Workshop-Teilnehmenden auf, über erlittene Schmerzen, über Ängste, Hass- und Schuldgefühle zu sprechen, sie herauszulassen, herauszuschreien. Vor ihr liegt eine Matratze, der einzige unbelegte Platz im Raum. Hierhin begibt sich, wer «arbeiten» will. Elisabeth hat versichert, dass niemand unter Druck gesetzt würde, dass jeder selbst wissen müsste, wie weit er oder sie gehen kann. «We shall push you, but never force you» – «Wir werden euch antreiben, aber niemals zwingen». Die erste Teilnehmerin, die nach vorn geht, erzählt von ihrem 18-jährigen Sohn, der vor einem knappen Jahr durch einen Verkehrsunfall getötet wurde. Sie bricht in Tränen aus, schildert Einzelheiten, wie der Anruf kam, wie sie sich ins Auto setzte, ins Spital raste und fassungslos vernahm, ihr Sohn sei tot. Sie hätte schreien wollen, toben wollen, Gott, den Arzt und die ganze Welt anklagen wollen. «Tu es jetzt!», sagt Elisabeth mit ruhiger, leiser Stimme. «Schrei es aus dir heraus, lauter, lass es ganz heraus, klag sie alle an, sag ihnen das Unrecht, das dich getroffen hat!» Die Frau schreit, lauter, immer lauter, krümmt sich vor Schmerz, greift nach dem Gummirohr, das neben der Matratze liegt, und schlägt heulend auf ein hartes Kissen ein.
 

Ich spüre starke Anteilnahme und Betroffenheit unter den Teilnehmenden. Mehrere weinen. Eine Frau schluchzt laut auf. Sie ist die nächste, die sich nach vorn begibt. Sie hat innerhalb weniger Jahre zwei Kinder verloren. Fünf oder sechs weitere Teilnehmerinnen erzählen von Kindern, die durch Unfälle, Krankheit oder Mord gestorben sind. Doch dramatische Schicksalsschläge von dieser Heftigkeit sind nicht die Regel. Die Ängste, Schuld- und Unwertgefühle vieler Teilnehmender reichen in die Kindheit zurück. Manche äussern zum ersten Mal laut und vor andern ihren Zorn gegen Eltern, von denen sie sich vernachlässigt, nicht verstanden oder hintergangen fühlten. Schmerzen, Ängste, Aggressionen, die während Jahren oder Jahrzehnten unterdrückt wurden, brechen unter Tränen und Schreien hervor.
 

Die Entladung aufgestauter Gefühle wirkt ansteckend, enthemmt, macht andern Mut, aus sich herauszugehen. Nachdem eine junge Therapeutin, die mehrmals von Männern bedroht wurde, ihre Wut und ihre Angst vor Vergewaltigung ausgetobt hat, getraut sich eine andere, schüchterne junge Frau, über das zu sprechen, was sie seit vier Jahren niemandem anvertraut hat. An einem Nachmittag kam sie vor ihrem Haus mit einem Mann ins Gespräch, der sie nach kurzer Zeit bedrängte und bedrohte. Ausser ihren zwei kleinen Kindern war niemand in der Nähe. Ihre grösste Angst war, vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt zu werden. Stumm und regungslos liess sie in einer abgeschirmten Ecke die Gewalttat über sich ergehen. Als sie sich ihrer Mutter anvertrauen wollte, hatte diese nur Spott für sie übrig: «Weisst du keine bessere Geschichte, um dich bei mir wichtig zu machen?»
 

Ich weiss schon lange, dass vor allem in den USA Vergewaltigung für viele Frauen eine ständige Bedrohung ist. Aber ich habe mir nie klar gemacht, was es bedeutet, als Frau mit dieser Angst zu leben. Zum ersten Mal schäme ich mich, ein Mann zu sein.
 

Während zweieinhalb Tagen, von neun Uhr früh bis Mitternacht oder später, reisst die Kette dieser Gruppenkatharsis nicht ab. Dass wir auch körperlich ausgiebig durchgeschüttelt werden, dafür sorgen die halbstündigen Schulbusfahrten, die uns sechsmal am Tag zwischen der Ranch und Escondido hin- und herbefördern, weil wir alle Mahlzeiten im Motel einnehmen. Die täglichen drei Stunden im Bus sind übrigens fast die einzige Gelegenheit, mit den andern Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen. Während der «Arbeit» gibt es unter den Teilnehmenden keine Kommunikation. Elisabeth hält es nicht für hilfreich, wenn die Teilnehmenden aufeinander zugehen, Anteilnahme ausdrücken, verbal oder nonverbal miteinander kommunizieren. Mitfühlendes Verhalten – eine Hand drücken, den Arm um die Schultern legen – unterbinde den notwendigen Leidensprozess und hindere die Freigabe verschütteter Gefühle, befürchtet sie. Über den langfristigen Erfolg ihrer Workshops, die sie auch als «vorbeugende Psychiatrie» versteht, hat Elisabeth Untersuchungen durchführen lassen. Danach seien bei über 80 Prozent der Teilnehmenden bleibende positive Veränderungen festzustellen.
 

Mir selbst macht der Verzicht auf Kommunikation unter den Teilnehmenden grosse Mühe. Die Situation ist mir zu künstlich, erzwungen. Weil ich meinen Gefühlsregungen keinen spontanen Ausdruck verleihen kann, komme ich mir eingeschnürt vor, von meinen Gefühlen abgeschnitten. Was vor mir auf der Matratze passiert, erscheint mir je länger je mehr wie ein klinisches Geschehen, das mich unbeteiligt lässt. Ich bin unfähig, unter diesen Bedingungen Gefühle aus mir herauszupressen. Ist es Angst, die mich lähmt? Oder hat es tatsächlich mit der Situation zu tun? Ich weiss aus anderen Erfahrungen, dass ich fähig bin, mich in andere einzufühlen, mich zu öffnen und Gefühle auszudrücken. Warum also bin ich hier so blockiert und verfalle in ein teilnahmsloses, dumpfes Brüten? Während ich mich darüber wundere – es ist am Abend des dritten Tages –, erlebe ich eine plötzliche Veränderung meines Gemütszustandes. Als hätte mich ein tiefer Schlaf erquickt, empfinde ich mich plötzlich leicht, angeregt, voll von Energie. Die bedrückende Müdigkeit von vorher ist wie weggeblasen. Ich könnte tanzen, lachen, singen.
 

Dieser beinahe euphorische Zustand hält den ganzen nächsten Tag über an – trotz eines beträchtlichen Schlafmankos. Bis spät in die Nacht hinein erlebe ich diesen vierten und für mich letzten Workshop-Tag mit einem Gefühl ungewohnter Frische und Aufnahmefähigkeit. Am Nachmittag fahren wir nach Shanti Nilaya: In bergiger Wildnis, gut 30 Autominuten von Escondido entfernt, hat Elisabeth eine Begegnungs- und Arbeitsstätte aufgebaut, die eines der Zentren ihrer Aktivitäten werden soll. «Shanti Nilaya» heisst auf Sanskrit «Haus des Friedens». Als einzige Erinnerung nach einer ihrer ersten übersinnlichen Erfahrungen hatte Elisabeth die zwei Wörter «Shanti Nilaya» zurückbehalten. Erst Jahre später erfuhr sie deren Bedeutung.
 

Shanti Nilaya ist noch im Aufbau. Gegenwärtig arbeiten 17 Leute hier, führen Elisabeths Sekretariat, organisieren Kurse, betreuen kranke und gesunde Menschen, die für kürzere oder längere Zeit hierherkommen, um ihr Leben zu überdenken und neue Kraft zu sammeln. Weitere Shanti-Nilaya-Zentren hat Elisabeth in Australien, in Alaska und auf Hawaii gegründet. Ihr Fernziel ist, in allen Staaten der USA und in vielen anderen Ländern solche Zentren aufzubauen.
 

Wir sitzen in der Bibliothek – noch dichter beisammen als in der Ranch, weil der Raum kleiner ist. Jemand bittet, nicht zu rauchen, was in Kalifornien bei Anlässen jeder Art eine Selbstverständlichkeit ist (die Anti-Raucher-Bewegung hat sich in den letzten Jahren stark ausgebreitet). Dass in Elisabeths Workshop geraucht werden durfte, ist der Death-and-Dying-Lady zu verdanken, die pro Tag mehrere Dutzend Zigaretten konsumiert. Manche behaupten, sie lebe von Kaffee und Zigaretten. Auf deren Schädlichkeit angesprochen, lächelt Elisabeth: «Ich weiss, aber es gibt Genüsse, die ich mir nicht versagen will.»
 

Elisabeth spricht von ihren spirituellen Erfahrungen, von ihren Forschungen über das Leben nach dem Tod. Glaubt sie an ein Leben nach dem Tod? Die Frage wird ihr oft gestellt. «Nein», antwortet sie jedes Mal mit Bestimmtheit, «ich glaube nicht daran, ich weiss es.» Der Tod ist bloss ein Durchgang, erklärt sie, ein Übergang in eine andere Seinsweise. Im Tod verlassen wir mit vollem Bewusstsein unseren Körper, wie ein Schmetterling dem Kokon entschlüpft.
 

Elisabeth ist alles andere als ein Schwarmgeist. Sie spricht über ihre übersinnlichen Erfahrungen mit der Nüchternheit einer Naturwissenschaftlerin, die ein Experiment beschreibt. Ihre Sprache ist einfach, anschaulich, oft von schwarzem Humor durchzogen. Da ist keine Spur von verklärten Blicken und säuselnder Stimme, wie sie Vermittlern übersinnlicher Erfahrungen oft eigen sind.
 

Ihr Wissen über ein Leben nach dem Tod schöpft Elisabeth aus zwei Quellen. Da sind zunächst ihre Forschungen mit Hunderten von Patienten, die Todesnähe erlebt haben, die «klinisch tot» waren und wieder zu Bewusstsein kamen. Im Vorwort zum Bestseller «Leben nach dem Tod» von Raymond A. Moody schreibt Elisabeth: «Die Befunde zeigen, dass der sterbende Patient sein Bewusstsein behält und seine Umgebung wahrnimmt, auch nachdem er für klinisch tot erklärt worden ist.» Blinde beispielsweise waren in der Lage, die Farbe der Krawatte zu nennen, die ein herbeigerufener Arzt am Bett des «klinisch Toten» trug. «Diese Patienten haben alle die Erfahrung gemacht, aus ihrer stofflichen Körperhülle herausgetragen zu werden, und dabei ein tiefes Gefühl von Frieden und Ganzheit gehabt. Die meisten haben eine andere Person wahrgenommen, die ihnen behilflich war bei ihrem Übergang auf eine andere Seinsebene. Die meisten wurden begrüsst von früher Verstorbenen, die ihnen nahegestanden hatten…»
 

Die entscheidenden Erkenntnisse über Leben und Tod gewann Elisabeth durch ihre eigenen übersinnlichen Erfahrungen. An Workshops und Vorträgen berichtet sie offen und ausführlich darüber, für eine Veröffentlichung in Buchform will sie sich aber noch etwas Zeit lassen. Im Nachwort zu ihrer Biographie, die ihr Leben bis zum Jahre 1969 schildert, schreibt sie nur andeutungsweise: «Ich habe vermutlich alle mystischen Erlebnisse gehabt, die einem Menschen zuteilwerden können […]. Ich habe das Licht gesehen, das meine Patienten erblicken, wenn sie an die Schwelle des Todes kommen, und ich war umgeben von der unglaublichen, bedingungslosen Liebe, die wir alle erleben, wenn wir uns zu dem Übergang anschicken, den wir Tod nennen.»
 

Ich kann Elisabeths Erlebnisse nicht nachprüfen. Aber ich halte sie für möglich. Ich habe keinen Grund, an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln. Dass die meisten Menschen in unserer Zeit keine mystischen Erfahrungen machen, heisst noch lange nicht, dass es keine aussersinnlichen Seinsformen gibt. Worauf ich mich hingegen verlassen kann, ist der persönliche Eindruck, den ich von Elisabeth gewonnen habe: Die wissenschaftliche Skepsis, mit der sie in Neuland vorstösst, ihr unaufhaltsamer Wille, zu erkennen und nicht bloss zu glauben, haben mich tief beeindruckt. Ihr Wesen umfasst zwei Eigenschaften, die selten zusammen auftreten: Sie verfügt über grösste Liebesfähigkeit und ist gleichzeitig die unsentimentalste Person, der ich je begegnet bin.
 

Berichte über Elisabeths spirituelle Erfahrungen, die in amerikanischen Zeitschriften erschienen sind, haben viele Vertreter der Fachwelt schockiert. Wenn sie von ihren «Guides», ihren «geistigen Lehrern» spricht – nicht-menschliche Wesen, die sich für die Dauer einer Begegnung in Menschengestalt materialisieren –, vermuten viele Zeitgenossen, sie habe den Verstand verloren. Gerüchte und Verleumdungen kamen in Umlauf – sie habe Krebs, sie leide an Geschlechtskrankheiten, ihre Workshops seien Sexorgien. Elisabeth reagierte gelassen auf diese Attacken. Sie weiss, was es heisst, sich über ein wissenschaftliches Tabu hinwegzusetzen. Ihre bahnbrechende Arbeit mit Sterbenden stiess auf erbitterten Widerstand aus dem medizinischen Establishment. Sie setzte sich durch und fand weltweite Anerkennung. Innerhalb von zehn Jahren ist sie – mit bald dreissig Ehrendoktortiteln – zur internationalen Kapazität Nummer eins auf dem Gebiet der Sterbehilfe*) vorgerückt.
 

Indem sie jetzt eine weitere Grenze, die Grenze des Todes, überschreitet, beginnt der Kampf von vorn. Über die enormen Widerstände, die sich gegen eine Auseinandersetzung mit einem Leben nach dem Tode aufbäumen, macht sie sich keine Illusionen. Aber sie wird nicht leicht zu bremsen sein. An einem Vortrag an der Universität von Kalifornien in San Diego erklärte sie vor über 2000 Zuhörerinnen: «Meine Arbeit mit Sterbenden ist beendet, viele andere Leute können sie weiterführen. Meine wahre Aufgabe, der Grund, warum ich auf der Erde bin, ist, den Menschen zu sagen, dass es keinen Tod gibt.»

 


Ein paar Lebensdaten:
Elisabeth sollte nicht studieren…


Am 8. Juli 1926 kommen in einer Zürcher Klinik Drillinge zur Welt: Elisabeth, Erika und Eva Kübler. Die Küblers – eine protestantische, mittelständische Kaufmannsfamilie – vereinigen alle Merkmale eines wohlgeordneten schweizerischen Idealhaushalts: Die Mutter, eine perfekte Hausfrau, wird als Gastgeberin geschätzt, der Vater ist begeisterter Bergsteiger. Als die Drillinge vier Jahre alt sind, zieht die Familie nach Meilen am Oberen Zürichsee. Idyllische Szenen einer noch intakten Postkartenschweiz prägen Elisabeths Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend in der Seegemeinde.
 

Elisabeth wird von ihrem Vater «Müsli» (kleine Maus) genannt. Ihre rührende, aber von der Familie nicht immer verstandene Hilfsbereitschaft trägt ihr jedoch bald einen anderen Übernamen ein: Fortan heisst sie «Pestalozzi».
 

In einem Aufsatz über ihre Zukunft schreibt die Dreizehnjährige: «Ich möchte Naturforscherin werden und unbekannte Wissensgebiete erforschen. Ich möchte das Leben studieren. Ich möchte die menschliche Natur und das Wesen der Tiere und Pflanzen erkunden… Mehr als alles in der Welt möchte ich Ärztin werden.»
 

Der Vater ist nicht bereit, Elisabeth ein Studium zu finanzieren. Sie hat auch kein Gymnasium besuchen dürfen. Auf eigene Faust verschafft sich die Siebzehnjährige eine Laborantinnenlehrstelle im Zürcher Kantonsspital, bereitet sich anschliessend in einem Jahr nebenberuflich aufs Abitur vor und finanziert dann ihr Medizinstudium durch Nachtarbeit.
 

Mehrmals beteiligt sich Elisabeth – schon während ihrer Lehrzeit – an freiwilligen Hilfseinsätzen im Ausland, unmittelbar nach Kriegsende. So kommt sie mit 21 Jahren nach Polen und erfüllt damit ein Gelübde, das sie bei Kriegsausbruch als Dreizehnjährige gefasst hat: dem polnischen Volk zu helfen, sobald es ihr möglich würde. Ein Besuch im Konzentrationslager Majdanek wirkt – so sieht es Elisabeth später – bestimmend auf ihre Auseinandersetzung mit dem Tod und der Negativität des Menschen.
 

Nach dem Staatsexamen in Zürich heiratet sie einen Studienkollegen, den Amerikaner Manny Ross, und zieht 1958 mit ihm nach New York. Einen Teil ihrer Psychiatrieausbildung absolviert sie in der «Hölle von New York», einer geschlossenen Anstalt für seelisch und körperlich Verelendete und Verwahrloste. Lehrbuchwissen hilft hier nicht weiter. Elisabeth versucht es mit einer eigenwilligen Therapie: Sie behandelt die zu völliger Unselbständigkeit Verkommenen als Menschen und gibt ihnen statt Medikamenten und Elektroschocks Liebe und Verantwortung. Sie hat Erfolg: Nach einem Jahr können drei Viertel der zum Teil jahrelang internierten «Chronisch-Schizophrenen» entlassen werden.
 

In den folgenden Jahren arbeitet sie an verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten. Mit ihren unorthodoxen psychiatrischen Methoden stösst sie in Neuland vor. Kurzfristig aufgefordert, für einen Professor bei einer Vorlesung einzuspringen, entschliesst sie sich, über den Tod zu sprechen. Sie bittet eine 16-jährige todkranke Patientin, an der Vorlesung teilzunehmen und auf Fragen der Studierenden von ihren Erfahrungen zu berichten. Die Betroffenheit und das Interesse der Studierenden ermutigen Elisabeth zu weiteren derartigen «Interviews mit Sterbenden». Nur wenige Leute wissen ausserhalb der Universität von ihrer Arbeit, die von den meisten ihrer Kollegen missbilligt und mitunter heftig abgelehnt wird.
 

Im Jahre 1969 veröffentlicht die Illustrierte «Life» eine Reportage über ein Gespräch, das Elisabeth mit einer an Leukämie erkrankten jungen Frau führt. Das ist der Durchbruch: Aus aller Welt treffen Zuschriften und Einladungen ein. Elisabeth wird als «Death-and-Dying-Lady», als Pionierin der Sterbehilfe*), weltweit bekannt.


Buchhinweise
 

Die Bücher von Elisabeth Kübler-Ross sind nicht für Spezialistinnen geschrieben. Sie machen aus der Sterbehilfe*) keine abstrakte Wissenschaft, sondern vermitteln in anschaulicher Sprache, was Menschen erleben, die sich mit Krankheit und Tod bewusst auseinandersetzen. 
 

Das grundlegende Werk von Elisabeth Kübler-Ross ist ihr 1969 erschienenes erstes Buch «Interviews mit Sterbenden» (Originaltitel «On Death and Dying»). Darin schildert die Autorin die fünf Phasen der Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Sterben (dem eigenen oder demjenigen von Angehörigen) und verdeutlicht ihre Aussagen mit Aufzeichnungen von Gesprächen, die sie mit sterbenden Menschen geführt hat.
 

In «Was können wir noch tun?» gibt Elisabeth Kübler-Ross Antworten auf häufig gestellte Fragen über Sterben und Tod. «Reifwerden zum Tode» ist eine Sammlung von Aufsätzen verschiedener Autoren, von Elisabeth Kübler-Ross herausgegeben.
 

Die erstaunliche Lebensgeschichte der Schweizer Ärztin hat der amerikanische Schriftsteller Derek Gill aufgezeichnet und unter dem Titel «Elisabeth Kübler-Ross – Wie sie wurde, wer sie ist» herausgebracht. Elisabeth Kübler-Ross hat diese Biografie autorisiert und mit einem Nachwort versehen. Die Biographie endet mit dem Jahr 1969. 
 

Als letztes Buch hat Elisabeth Kübler-Ross 1997 einen lebendigen Rückblick auf ihr Leben veröffentlicht: «Rad des Lebens». Sie starb im Sommer 2004 mit 78 Jahren.

*) Die Bedeutung des Wortes «Sterbehilfe» hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Aus der ursprünglichen Bedeutung der «Hilfe beim Sterben» wurde im Spannungsfeld der medialen Debatten «Hilfe zum Sterben», also Suizidhilfe. Ich habe in den alten Texten den Begriff «Sterbehilfe» belassen, aber heute würde man dazu «Sterbebegleitung» sagen.

 


Obige Texte wurden erstmals in der schweizerischen Wochenzeitung Brückenbauer (heute: Migros Magazin) am 17.4.1981 veröffentlicht. Sie sind enthalten in meinem Buch «fördern statt fordern», das 2021 erschienen ist.

 


© 2021 Christoph A. Müller, Basel

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