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Reisenotizen aus Kyiv und Kharkiv im September 2021

 

Im Oktober 2019 war ich zum ersten Mal in Kyiv und habe mich in diese Stadt verliebt. Was war es, das mich so anzog? Schwierig zu sagen. Ich fühlte mich gleich wohl hier, vom ersten Tag an. Vieles erinnerte mich ans Paris der sechziger Jahre: die breiten, belebten Strassen, die grosszügigen Häuserzeilen in klassizistischem Stil (der in Kyiv erstaunlich nahtlos in den imperialen Look der sowjetischen Bauwerke übergeht), das unaufgeregte Gedränge an den Metrostationen, der Charme der vielen improvisierten Caféterrassen, auf denen Touristen und Einheimische kaum zu unterscheiden sind. Darüber hinaus berührten und berühren mich in Kyiv zwei Themen, die diese Stadt wie keine andere prägen: die vielen goldenen Kuppeln mit den dazugehörenden Klöstern und Kirchen und die zahlreichen und unübersehbaren Spuren der tragischen Geschichte dieser Stadt, deren Wunden nicht verheilt sind und es in absehbarer Zeit wohl auch nicht sein werden. So entstand bei mir der Wunsch, diese faszinierende Stadt besser kennenzulernen, und ich beschloss, einen ganzen Monat hier zu verbringen. 

Da bin ich nun, in einer Wohnung mit Blick aus dem neunten Stock auf die Dächer und Kuppeln, auf den Dnjepr und das Riesenrad auf dem Kontraktova Platz, das für mich zum Wahrzeichen dieses charmanten und ältesten Stadtviertels geworden ist. So kitschig es aussieht -- eigentlich ist so ein Riesenrad kein schlechtes Lebenssymbol: Mal bist du unten, mal oben, bald fährt es, bald hält es, und hast du endlich den Überblick, so tauchst du gleich wieder in die Niederungen hinunter -- “ewig wechselnd” (wie Papa Goethe es in einem ähnlichen Zusammenhang mal formulierte).

 

Ich schreibe dieses Reisetagebuch übrigens nicht nur, um meine Lieben zu beglücken (die das alles vielleicht gar nicht lesen wollen), sondern auch für mich selber, da ich hier viel Zeit habe und Schreiben mir nicht nur die Zeit vertreibt, sondern mir auch dabei hilft, meine Gedanken und Eindrücke besser wahrzunehmen. Und weil es mir Spass macht. Wenn es anderen auch etwas bringt: umso besser!

 

Noch etwas Technisches: Ich habe vergeblich nach einer Software gesucht, um einen einfachen Blog herzustellen, der nur aus Text und Bildern besteht. Keine Chance! Alle Vorlagen von Wordpress bis Wix sind mit lauter Formatierungs-Schnickschnack ausgestattet, den ich nicht brauche, der aber in der Handhabung viel Zeit verschlingt. Als ich in Thailand war vor vier Jahren, habe ich Blogger.com von Google benutzt. Aber auch das ist aufwändig und funktioniert nur halbbatzig. Also hab ich mich fürs Einfachste entschieden: ein Online-Textfile mit minimaler Formatierung. Gern hätte ich Fotos eingefügt, aber auweia, auch das ist nicht ganz einfach. Erstens funktioniert die Platzierung mehr schlecht als recht, Bildlegenden noch weniger, und dann befrachten die Fotos das Dokument derart, dass es Minuten braucht, um zu laden. Was hingegen gut funktioniert, ist Google-Fotos, und so habe ich mein vagabundierendes Œu­v­re auf zwei Formate verteilt: den Text auf Google.docs und die Fotos auf Google.foto. Und das sind die Links zum Text und zu den Fotos.

 

Viel Spass!
Christoph A. Müller, September 2021

Mittwoch, 1. September

 

Das Swissflugzeug ist bis auf den letzten Platz besetzt. Eine Männer-Community von orthodoxen Juden prägte schon am Gate das Bild der Wartenden. Alle mit Kippa, Bart und Schläfenlocken. Für schweizerische Verhältnisse ein ungewohntes Bild. Viele Passagiere sprechen Russisch (oder Ukrainisch?). Ab und zu verstehe ich ein Wort. Hinter mir sitzt ein Mann, den ich nicht sehe, aber immer wieder höre, weil er sich weigert, den Anweisungen der Flugbegleiterin Folge zu leisten. Mit einer Engelsgeduld und in freundlichem, aber bestimmtem Ton sagt sie ihm immer wieder, er solle seine Schuhe anziehen, den Tisch einklappen und die Maske tragen. 

 

Nach zweieinhalb Stunden plus einer Stunde Zeitverschiebung landen wir in Kyiv. Passkontrolle mit Impfzertifikat und Krankenkassenbescheinigung sind in wenigen Minuten erledigt. Nun beginnt das Abenteuer, nämlich der Transfer in die Stadt. Vor zwei Jahren hatte ich problemlos ein Ubertaxi bekommen. Das versuche ich jetzt auch, weil die normalen Taxis den Touristen oft übersetzte Preise abverlangen -- wurde mir gesagt. Bestellen ist einfach mit der Uber-App, aber wie findet mich der Fahrer oder die Fahrerin? Sie ruft mich an: wo ich denn sei? Soviel verstehe ich auf Russisch. Die Antwort ist schwieriger, nicht nur aus sprachlichen Gründen. Ich bin am Terminal D und das erstreckt sich über gut 500 Meter. Es hat mehrere Parkplätze, Taxistandplätze, Bushaltestellen, überall Leute mit und ohne Gepäck, die den vorbei brausenden Autos nachspähen -- wahrscheinlich haben sie alle auch ein Uber bestellt… Nach dem dritten Anlauf gebe ichs auf und nehme ein konventionelles Taxi für 31 Euro, was doppelt soviel ist, wie ein Uber gekostet hätte, aber im Vergleich zur Schweiz auch nicht überrissen. Der Taxifahrer ist gut gelaunt. Er kann etwa so viel Englisch wie ich Russisch, so dass wir uns ganz ordentlich unterhalten können.

 

Nun stehe ich mit Koffer und Rucksack vor dem 9-stöckigen Haus an der Igorivskastrasse, wo meine Wohnung sein soll. Die Haustür ist verschlossen, es hat weder Namensschilder noch Klingeln, die darauf deuten würden, dass hier vermutlich Leute wohnen. Ich schreibe dem Vermieter per WhatsApp, dass ich angekommen bin. “Come to the apartment”, lautet seine Antwort. Sein Kommunikationsstil war bisher schon recht sparsam, aber ich erinnere mich, dass er mir ein paar Anweisungen geschickt hatte, die ich nicht verstand. Handy sei Dank finde ich den Info-Austausch auf Booking und tatsächlich, da steht etwas von Entrance 2 und Wicket Code. In der Seitenstrasse, die mit Autos und Kehrichtcontainern vollgestellt ist, befindet sich ein Hofeingang, den gerade jemand öffnet und mich mit reinlässt. Auch die Haustür schliesst er auf und bringt mich zum Lift, der sich eine Treppe höher befindet. Er fährt in den achten Stock, ich muss in den neunten. So finde ich die Wohnung 68, wo mein Vermieter wartet, ein sportlich und jovial aussehender Mann von etwa 40 Jahren. Er hat es offenbar eilig, zeigt mir schnell die Wohnung und fragt, ob er nun gehen kann. Ob er der Eigentümer ist, frage ich ihn. Nein, sein Bruder. Ob ich mit Karte bezahle, will er noch wissen. Ja, sage ich, aber ich muss auf Booking meine neue Karte registrieren. Ob ich das gleich machen könne? Er werde die Miete in einer Stunde abbuchen. Und damit ist er weg.

 

Ein freundlicher und hilfreicher Gastempfang sieht anders aus, aber was solls, Hauptsache, ich bin gut angekommen und habe eine passable Wohnung. Die Aussicht ist das beste an der Wohnung -- eindrückliche Sicht auf die Dächer von Kyiv, vom Andreashügel bis zum Dnjepr. Im Innern ist die Wohnung weniger attraktiv. Immerhin, sie hat zwei recht grosse Zimmer plus Küche und Bad. Soweit ich es überblicke, scheint alles zu funktionieren, Warmwasser, Dusche, Gasherd mit 2 Flammen. Die Einrichtung stammt möglicherweise noch aus Sowjetzeiten, alles verschwimmt in Grau, Beige, Braun und kontrastiert mit dem rot-orange gestreiften Teppich, der aus einem alten Migrosrestaurant stammen könnte. Ich werde es überleben, habe ja auch keine Designerwohnung erwartet und die Aussicht macht vieles wett, vor allem wenn die Sonne scheint. Der Lift ist etwas laut, merke ich gerade, an dieses Geräusch werde ich mich gewöhnen müssen. 

 

Nun aber raus, mal sehen, ob ich mich hier noch zurechtfinde. Vor zwei Jahren wohnte ich auch in diesem Viertel, Podol oder Podil genannt (Pod = unter, unterhalb). Es ist der älteste Teil der Stadt, die Unterstadt, vor über tausend Jahren erbaut und während Jahrhunderten das Zentrum der Handwerker und Händler. Daher auch der Name des grössten Platzes: Kontraktowa Ploscha, wo Kontrakte abgeschlossen wurden.

 

Der Platz ist nicht weit von meiner Wohnung. Die breite Petra-Sagaidatschnovo-Strasse ist mittlerweile verkehrsfrei und scheint sich zur Partymeile entwickelt zu haben. Links und rechts Cafés, Bars, Restaurants, die Terrassen meist grell beleuchtet und ohrenbetäubend beschallt. Davor und dazwischen huschen dutzendweise zumeist junge und sehr junge Leute, in Gruppen oder als Pärchen, vorüber, mit sich selber, ihrem Handy oder ihren Begleiterinnen beschäftigt, als hätten sie es eilig, irgendwohin zu kommen und nichts zu verpassen.

 

Meine Erinnerungen kommen zurück, und obwohl es dunkel ist, finde ich den Weg zum kleinen Restaurant mit ukrainischen Spezialitäten, das ich vor zwei Jahren entdeckt hatte. Oh Wunder, es existiert noch, nichts hat sich verändert, die Männer und Frauen, die bedienen, tragen immer noch traditionelle, bestickte ukrainische Blusen und Hemden, die Teller sind mit Blumenmustern geschmückt, aber es ist keine Touristenbeiz, ich bin der einzige Ausländer hier. Ich versuche den ersten Borsch und bestelle dazu Hering im Pelzmantel -- eine russische (und ukrainische?) Spezialität, die köstlich schmeckt (kleine Happen Matjesfilets, bedeckt mit Rübli- und Kartoffelsalat plus reichlich Mayonnaise).

 

Das reicht für den ersten Abend, nun freue ich mich aufs Bett und bin gespannt, wie ich die erste Nacht verbringe.

 

Freitag, 3. September

Hab die beiden letzten Nächte gut geschlafen, die Matratze ist etwas hart, aber besser so als zu weich. Erster Einkauf im Supermarkt, den ich noch vom letzten Mal kenne. Man muss wissen, wo sie sind, die Supermärkte, und dass sie meist nur mit “Produkti” angeschrieben sind, was Lebensmittel bedeutet. Von aussen sind die Läden meist unscheinbar, auch wenn die Ladenfläche gross ist und einem Quartiermigros bei uns nicht nachsteht. 

 

Komische Dinge fallen mir auf. Ich muss mehr auf meine Schritte achten als sonst. Bin ich noch müde von der Reise oder einfach ein wenig desorientiert? Nein, es ist ganz einfach: Die Strassenbeläge sind in schlechtem Zustand. Da und dort fehlen Pflastersteine, die Kantsteine sind mal höher mal niedriger, grössere Löcher im Belag sind keine Seltenheit. Wir sind verwöhnt in unseren Wohlstandsstädten, wo der Strassenbau manchmal an Kosmetik erinnert. Andere Länder, andere Standards…

 

Auch der Hinterhofeingang und das Treppenhaus in meinem Haus erinnern mehr an eine Favela als an eine europäische Stadt. Ich habe in Moskau Ähnliches gesehen: ein Rohbauzustand in vorgerücktem Alter. In Paris vor 50 Jahren gabs das auch noch. Überhaupt erinnert mich vieles im Strassenbild ans Paris der 60er Jahre. Schöne Häuser mit klassizistischen Fassaden, die schon lange nicht mehr oder noch gar nie renoviert wurden. Das marode, ein wenig heruntergekommene Aussehen hat ja seinen Charme -- zumindest von aussen. Um drin zu wohnen, ist es vielleicht anders.

 

Spaziergang zum Andreasstieg und hinauf zur Andreaskirche. Man nennt diesen Hügel das Kyiver Montmartre. Hat etwas. Bistros, Theater, Souvenirstände, an denen statt Eiffeltürmchen farbig lackierte Matrioschkas feilgeboten werden, erinnern an die Kulisse von Amélie. Sacré Coeur wurde in neobyzantinischem Stil erbaut, die Andreaskathedrale ist ein barockes Bauwerk. Für einen Kunstbanausen wie mich haben beide Kuppelbauten mit ihren Zuckerbäckerverzierungen eine gewisse Ähnlichkeit. Ihre Ausstrahlung von ihren jeweiligen Hügeln hinab auf die Stadt ist in beiden Fällen betörend.

 

Gleich hinter der Andreaskirche befindet sich das Altkyiver Plateau, der älteste Platz der Stadt. Von der ersten Steinkirche der Kyiver Rus sind nur noch die Fundamente vorhanden. Aber der Platz, von alten Bäumen umsäumt, wirkt magisch.

 

Nicht weit davon lockt eine andere stimulierende Anlage: die Pejsaschnaja Alleja (von paysage, Landschaftsallee), wo der Bildhauer Konstantin Skretutsky 2009 einen Skulpturenpark mit Kinderspielplatz geschaffen hat, der an den Parc Güell von Gaudí und an die Skulpturen von Neumannundmuellerarts erinnert. 

 

Ich habe von den Skulpturen und Figuren keine Fotos gemacht, aber hier gibt es eine schöne Auswahl davon.

 

Quer über die Strasse habe ich aber ein auffälliges Fassadenbild erblickt und abgelichtet. Keine Ahnung , was es darstellt, aber Kyiv ist berühmt für seine Street art.

 

Samstag, 4. September

 

Ich hatte mich für eine geführte Tour durchs Podil-Viertel angemeldet und freute mich, von diesem Stadtteil, der mir sehr gefällt, mehr zu erfahren. Als Treffpunkt war der Eingang zum Kyiver Hafen am Dnjepr angegeben. Ich fand mich dort ein, eine halbe Stunde früher, aber es war wie beim Taxisuchen am Flughafen: der Dnjepr-Hafen ist fast einen Kilometer lang und hat mehrere Zugänge, seitlich und von oben. Auch da waren viele Leute am Bummeln und Verweilen, Familien mit Kindern, eine Hochzeitsgesellschaft mit Frauen, die die letzten Schminkretuschen vornahmen, kurz: ein buntes Treiben, aber nichts, das auf eine Führung hingewiesen hätte. 

 

So entschloss ich mich stattdessen zu einer Schiffstour auf dem Dnjepr, die für eine Stunde ein Kyiv-Panorama anbot. Ich hatte diese Bootsrundfahrt schon vor zwei Jahren gemacht, aber damals war es kalt und ein wenig ungemütlich. Jetzt war gutes Wetter und so liess ich mich gerne nochmals über die Dnjeprfluten gleiten. Worauf ich mich besonders freute, war das unvermittelte Auftauchen des Lavra-Kloster-Komplexes, bekannt unter dem irreführenden Namen Höhlenkloster. Denn das Höhlenkloster ist nur der kleinste Teil und lässt nicht vermuten, dass es sich um ein einmaliges Gesamtkunstwerk von mehreren Kirchen, Türmen und Klöstern handelt, das ins 11. Jahrhundert zurückreicht und an dem bis ins 19.  Jahrhundert gebaut wurde.

Sonntag, 5. September

 

Hurrah, geschafft! Meine erste Metrofahrt. Ich wusste nicht mehr, wie die Metro funktioniert, welche Linie wohin führt, wo und wie man umsteigen kann und muss, aber vor allem: wie man Tickets kauft. Die nächste Metrostation ist nahe bei meiner Wohnung, Poschtova Ploscha, was Postplatz heisst. Ich hatte Glück: ein Schalter war bedient und die freundliche junge Frau sprach ein paar Worte Englisch. Zusammen mit meinem Russischradebrechen verstand ich, wie es geht: Man kauft eine Karte und speichert darauf so viele Tickets, wie man kaufen will. Je mehr man kauft, desto billiger werden die Fahrten. Die Karte ist für Metro, Autobus, Trolleybus und den von mir geliebten Funikuljer gültig, der gleich um die Ecke ist und zum Michaelskloster hochführt. Ein tolles und einfaches System (wenn man es mal kennt) und fast gratis: Eine Fahrt kostet umgerechnet 25 Rappen. 

 

Gleich fuhr ich mit dem Funikuljer zum Michaelskloster hoch. Ein zauberhafter Ort, der mich schon vor zwei Jahren in seinen Bann zog. Auch dieser Ort schwebt gleichsam über der Stadt, wirkt abgehoben, entrückt. Und trotzdem ist er von Leben umgeben, vom Verkehr umflossen, von hohen Gebäuden eingerahmt (das Aussenministerium steht daneben) und von Denkmälern bewacht (die Fürstin Olga aus dem 11. Jh. thront neben Kyrill und Method, den Erfindern des kyrillischen Alphabets). Aber auf dem weitläufigen Gelände der Klosterkathedrale scheint die Luft erfüllt von Heiterkeit und Frieden, die den Besuchenden sanft umwehen. Ein magischer Ort auch dies, der während der Majdan-Massaker 2014 als Zufluchtsort und Notfallstation diente und später zum Ausgangspunkt der grossen Demonstration wurde, die das ganze Land erschütterte.

 

Montag, 6. September

 

Ein eisiger Wind blies am Wochenende, jetzt hat er sich gelegt, aber es ist immer noch kalt, so um die 15°, also ungemütlich. Das hat mir auch die gute Laune ein wenig verdorben… Aber vielleicht war es nicht nur das Wetter, das meine Stimmung trübte. Ich brauchte ein paar Tage, um mich hier zurechtzufinden, nicht nur wegen der fremden Umgebung, sondern weil ich hier keine Tagesstruktur habe. Niemand will etwas von mir, nichts wartet auf mich, kein Termin steht an, keine Aufgabe will erledigt sein, kein Treffen zu einem Schwatz am Rhein lockt am Ende des Tages. Die totale Freiheit sozusagen, aber gar nicht so einfach auszuhalten. Ich bin ja gerne allein und langweile mich nicht so schnell, aber dieses Gefühl, in einem Niemandsland zu sein, ist mir nicht vertraut. 

 

Ich glaube, dass ich das in den ersten Tagen nicht recht realisiert habe. Ich war dépaysé, wie es auf Französisch so schön heisst, «entlandet», aber gestand es mir nicht ein. Stattdessen machte sich Ärger breit über die geschmacklose Einrichtung meiner Wohnung und die Unfreundlichkeit der Vermieter und das verstimmte mich derart, dass ich mir eingestehen musste, dass wohl etwas anderes mich plagte. Aber natürlich, es dauert ein paar Tage, bis die Seele nachkommt, in zweieinhalb Flugstunden schafft sie es nicht. 

 

Inzwischen hat sich mein Zusatnd wieder aufgeheitert und ich freue mich, hier zu sein. So schrecklich ist die Wohnung auch wieder nicht, Lage und Aussicht sind super, sie ist sauber, geräumig, nicht lärmig – so what! 

Kyiv oder Kiew? Oder Kiev? Man findet alle Schreibungen, aber was hat es damit auf sich? Hinter den vier Buchstaben steckt ein bisschen Linguistik und viel Identitätspolitik. Auf Russisch wird die Stadt von jeher Киев geschrieben – gesprochen als eine lange Silbe: kiief, transkribiert auf Deutsch: Kiew, auf Englisch: Kiev. Auf Ukrainisch nennt sie sich Київ: man spricht es in zwei kurzen Silben: ke-jew und transkribiert es auf Englisch mit Kyiv. Seit der Unabhängigkeit im Jahre 1991 (der ukrainische Staat ist erst 30 Jahre alt!) wurde Ukrainisch zur alleinigen Amtssprache des neuen Staates erklärt, obwohl Russisch in Kyiv und im östlichen Teil des Landes dominiert. Mit der Befreiung von der Sowjetherrschaft hat sich die Ukraine  – wie andere frühere Sowjetrepubliken – zu Westeuropa hin geöffnet und zusehends von Russland abgewendet. Durch Russlands Annexion der Krim und seine bis heute fortdauernden Aggressionen an der Ostgrenze der Ukraine hat sich der Graben zwischen den zwei Ländern vertieft. Aus ukrainischer Sicht ist mit Blick auf Russland eine offene Feindschaft ausgebrochen.

Kein Wunder, ist der ukrainische Staat bemüht, seine Identität zu verteidigen und zu festigen. Ob  ein Sprachdekret dazu das richtige Mittel ist? Es schafft im Alltag viele absurde Situationen und schwer erträgliche Widersprüche. “Man kann doch nicht von heute auf morgen seine Sprache ändern”, sagte mir eine Kyiverin mit russischer Muttersprache. Ob sie denn auch Ukrainisch spricht, fragte ich sie. “Ja schon”, sagte sie, “aber nur wenn ich dazu gezwungen werde.”

 

Zurück zu den vier Buchstaben. Die Ukraine bemüht sich, ihre Schreibung auch im Ausland durchzusetzen. Nicht ohne Erfolg. Im Englischen gewinnt Kyiv an Terrain. Die New York Times benutzt es, Booking.com und einige Fluggesellschaften bieten beide Schreibungen an. Auch der Duden zeigt sich reformfreudig und schlägt neben dem traditionellen Kiew gleich zwei Varianten vor: Kyjiw und Kyïv. Im deutschen Sprachraum wird das bis jetzt aber kaum befolgt.

 

Für meinen eigenen Gebrauch habe ich mich für Kyiv entschieden – aus Sympathie für die Ukraine und weil die deutschen Transkriptionsversuche mich mehr an Kiwis denn an eine Stadt erinnern.

Mittwoch und Freitag, 8. und 10. September

 

Ich habe eine Tourguide gefunden und treffe sie heute auf dem Majdan, dem berühmten Platz der Unabhänggigkeit im Zentrum der Stadt. Um 15 Uhr vor dem Konservatorium, schlägt sie vor. Sie heisst Tatjana und spricht fliessend Englisch. Das Konservatorium ist ein auffälliger weisser Tempelbau von 1890, der leicht zu finden ist, wenn man weiss, dass er es ist. Denn offiziell heisst er heute nicht mehr so. In den neunziger Jahren wurde sein Name veredelt zu «Nationale Musikakademie der Ukraine Peter Tschaikowski». 

 

Ich hatte gewünscht, etwas vom repräsentativen Kyiv zu sehen, also Regierungssitz, Universität, Oper usw., da ich diese Seite der Stadt noch nicht kenne. Da ist der Musik-Kulturtempel ein guter Start. Bevor wir losziehen macht mich Tatjana auf den Architekturmix aufmerksam, der den Majdan säumt. Die bombastischen klassizistischen Gebäude konkurrieren mit den Zuckerbäckerfantasien aus dem 20. Jahrhundert, die in Kyiv «Stalinskij Barock» genannt werden. 

 

Wir steigen hinter dem Majdan den Hügel hoch und kommen zum Haus der Chimären. Ich hatte davon gehört, konnte mir aber nichts darunter vorstellen. Es wurde 1903 von Vladislav Gorodezki erbaut, einem abenteuerlichen Architekten, der für diesen Bau gegossene Zementfiguren anfertigte – zur damaligen Zeit ein gewagtes Experiment. Man nennt ihn manchmal den Gaudí von Kyiv. «He was a crazy guy», sagt Tatjana. Seine Leidenschaft waren Safaris in Afrika –  in der damaligen Zeit kein verbreitetes Hobby. Er setzte grosse Teile seines Vermögens dafür ein und bezog daraus wohl auch viele Inspirationen für die eindrücklichen Chimären, die sein Jugendstilhaus schmücken: exotische Tiere, Fabelwesen, Monstren – was immer man darin sehen will. Er lebte einige Jahre selber im Haus, musste es nach ein paar Jahren aber aus Geldmangel verkaufen. Lange Zeit diente es als Wohnhaus, dann als Krankenhaus. Heute gehört es zur Präsidenten-Residenz und wird für offizielle diplomatische Zeremonien genutzt.

 

Der Sitz des Präsidenten ist tatsächlich gleich dahinter, ein weisses Monumentalgebäude mit schneeweisser Säulentempelfassade. Geradezu bescheiden wirkt die Hausbeschriftung auf einer kleinen Bronzetafel: Президент Украіни — Der Präsident der Ukraine, darunter das Landeswappen, der Тризуб (Trisub, Dreizack, wörtlich: Dreizahn), der üblicherweise goldig auf blauem Hintergrund dargestellt wird:  

Gelb und Blau, die Farben der Ukraine, bedeuten Korn und Himmel, sagt Tatjana. Über die Bedeutung des Dreizacks, der schon vor hundert Jahren als Staatssymbol eingeführt wurde, lese ich bei Wikipedia: «Über die ‹ursprüngliche› Bedeutung des Symbols gibt es eine große Anzahl von Legenden. Auffällig ist seine Ähnlichkeit mit dem Dreizack Neptuns. Ukrainischen Schulkindern wird heute beigebracht, im Trysub könne man das Wort ВОЛЯ (ukr. WOLJA, Wille und Freiheit) lesen.»

 

Nicht weit vom Regierungssitz befindet sich das Parlament, die Rada – der Rat. Auch hier wurde an Symbolik nicht gespart: Die Säulen, die den Kuppelbau wohl eher verzieren als stützen, leuchten in Gelb und Blau.

 

Ein paar Schritte weiter erreichen wir den Marijinskyj-Palast und den angrenzenden  grosszügig angelegten Marijinskyj-Park. Der elegante Palast erinnert nicht zufällig an die Ermitage in St. Petersburg. Wie diese, wurde auch er vom Hofarchitekten der Zarin Elisabeth I. erbaut, dem 1700 in Paris geborenen und später nach Russland ausgewanderten Bartolomeo Rastrelli. Diesem Barockbaumeister italienischer Abstammung verdanken Russland und die Ukraine mehrere berühmte Bauten. In Kyiv ist es neben dem Marijinskyi-Palast die Sankt-Andreaskirche, die — ebenfalls in Blautürkis und Weiss — mich bei Tag und bei Nacht beim Blick aus dem Fenster erfreut. 

 

Obwohl sich allmählich meine Beine bemerkbar machen, ist der Ausflug mit Tatjana noch nicht zu Ende. Sie führt mich zum nahegelegenen Fabrikareal des Arsenals, wo mehrere riesige Industriegebäude von früheren Armee-Aktivitäten und militärischer Produktion zeugen. Ein Teil der Gebäude wurde umgebaut und umgenutzt, ein anderer Teil gammelt verlassen vor sich hin. Eine Industrieruine, deren Sanierung offenbar durch politische und spekulative Interessen seit Jahren blockiert ist. «We are a corrupt country, you know», sagt Tatjana und zuckt mit den Schultern.

 

Hier liegt auch die Metrostation «Arsenalna», in die wir hinabtauchen. Mit ihren zwei aufeinanderfolgenden Rolltreppen, die in 105 Meter Tiefe hinuntergleiten, gilt sie als die tiefste U-Bahn-Haltestelle der Welt. Ich muss mich am Laufband festhalten, denn Kyivs Metro-Rolltreppen sind zwar in die Jahre gekommen, aber befördern die Tausenden von Passagieren mit rasantem Tempo hinauf und hinunter. Gut sieht man während der Fahrt das schwindelerregende Ende der Treppe nicht, weil die vielen Leute die Sicht verstellen…

 

Drei bedeutende Kyiver Stätten hat sich Tatjana noch für unseren Nachmittagsspaziergang vorgenommen: die Wladimirkathedrale (ukrainisch Wolodymyrskyj sobor), die Universität und die Oper. Die neobyzantinische Kathedrale aus dem 19. Jahrhundert ist ein imposantes Bauwerk mit gelbweiss verzierter Fassade. Wir gehen kurz hinein und werden von feierlichen Sologesängen empfangen. Sie gehen aus von der Zeremonie, die sich gerade vor der Ikonostase abspielt, der goldgeschmückten Trennwand zum Altarbereich, wie er in orthodoxen Kirchen üblich ist. Es sind Frauenstimmen, und ich frage Tatjana, ob in der orthodoxen Kirche Frauen als Priesterinnen zugelassen sind. Sie lacht mich aus: «Certainly not, everything is still strongly patriarchal». Aber als Vorsingerinnen sind sie zugelassen. Unser Getratsche stört eine alte Frau, der wir auch noch die Sicht auf eine Ikone verstellen. Sichtlich verägert, zieht sie Tatjana zur Seite, schimpft auf sie ein, verneigt sich vor der Ikone und bekreuzigt sich.

 

Universität und Oper erblicken wir im Vorübergehen, eine nähere Betrachtung muss ich auf ein anderes Mal verschieben. Aber ich weiss jetzt, wo sich alle diese ehrwürdigen Stätten befinden, und kann sie mir ein anderes Mal genauer ansehen. Leider reicht es nicht mehr zu einem Drink, Tatjana eilt zu ihrem Auto, weil sie zu Hause einen Handwerker erwartet, der ihren Boiler reparieren soll. 

 

Einen Tipp gibt sie mir noch: Statt hier die Metro zu nehmen, kann ich in zehn Minuten zu Fuss den Funikuljer erreichen. Das passt mir, denn so muss ich nicht erneut in die Metro-Unterwelt hinuntersteigen. Auf dem Weg, der doch etwas länger dauert, begegnen mir die Sophien-Kathedrale und die Michaels-Kirche, sie stehen beide auf einem gediegenen Plateau, das ich schon kenne, aber nicht hier vermutete. Langsam fügen sich in mir die unterschiedlichen Stadtteile zusammen und formen ein Bild dieser komplexen Stadt. Ein willkommenes Strassencafé lässt mich endlich auf einen Gartenstuhl sinken und meinen Durst mit einem würzigen ukrainischen Bier löschen. 

 

Zwei Tage später, am Freitag, wiederhole ich den Rundgang allein, um einiges genauer anzusehen und Fotos zu machen. Seit ein paar Tagen geniesse ich spätsommerliches Wetter und das Thermometer klettert auf über 20 Grad. 

 

Sonntag, 12. September

 

Wladimir – ein verbreiteter slawischer Vorname, der auf Russisch auf der zweitletzten Silbe betont wird: Wladîmir. Auf Ukrainisch heisst er Wolodymyr, auch auf der zweitletzten Silbe betont. Wie vieles andere, ist auch dieser Vorname hier ein sensibles Thema. Nicht nur, weil der Grossfürst Wladimir vor über tausend Jahren das damalige Kyiv und die Kiewer Rus, das mittelalterliche altrussische Grossreich, christianisierte. Er soll, sagt die Legende, zwischen Islam und Christentum gewählt und sich für Letzteres entschieden haben, weil der Islam den Alkohol verbietet und die kalten Winter im Kiewer Reich nicht ohne wärmenden Alkohol zu überstehen seien. Jedenfalls wurde er heilig gesprochen, erhielt in Kyiv eine monumentale Statue sowie die Wladimir-Kathedrale, von der ich schon erzählt habe. Er ist hier also omnipräsent. Nun gibt es aber gegenwärtig noch einen anderen Staatsmann, der sich gerne als grossrussischer Herrscher aufführt und auch Wladimir heisst. Und zu allem Unglück trägt der derzeitige ukrainische Präsident denselben Vornamen. Man kann verstehen, warum es für Präsident Selenskyj wichtig ist, dass er Wolodymyr und nicht Wladimir genannt wird. 

 

Die Transkription, also die Übertragung slawischer Wörter in beispielsweise westeuropäische Sprachen und ihre Schreibungen, ist eine Wissenschaft für sich, die mich bisher nicht besonders interessierte. Bis ich bemerkte, dass es da ein paar Seltsamkeiten gibt, die ich nicht verstand. Als ich vor zwei Jahren in Kyiv war, wohnte ich an der Wuliza Hrihorija (Wuliza heisst auf Ukrainisch Strasse). So war mir auf Booking.com die Adresse mitgeteilt worden, und so steht sie auf dem Stadtplan meines deutschen Reiseführers. Ich fand das schwer aussprechbar und das «hr» irritierte mich, umso mehr, als das Russische unseren Laut H gar nicht kennt. Aber ich dachte mir nicht viel dabei. Dieses Mal wohne ich gemäss Stadtplan an der Wuliza Ihorivska. Auch das fand ich merkwürdig. Ich schaute aufs Strassenschild und las in kyrillischer Schrift: Ігорівська, was man auf Russisch Igorivska spricht. Und das machte für mich Sinn: Ich wohne an der Igorstrasse. Der kyrillische Buchstabe Г entspricht nämlich unserem G. Und natürlich, auch meine damalige Strasse ist die Григорія, gesprochen Grigorija, also die Gregorstrasse. Ich bin im Viertel der Vornamensstrassen, und es gibt in der Nähe auch eine Peterstrasse und eine Andreasstrasse.

 

Das wäre alles richtig, wenn die Strassennamen hier auf Russisch geschrieben und ausgesprochen würden. Aber das ist ja nicht der Fall. Es handelt sich ums Ukrainische, und da sind Schrift und Aussprache nicht identisch mit dem Russischen. Es sind kleine Abweichungen, aber sie haben es in sich. Beide Sprachen enthalten in ihrem Alphabet 33 Buchstaben und die meisten stimmen in Schrift und Aussprache überein. Aber: den Buchstaben Ы gibts nur auf Russisch. Der Laut (etwa üi) ähnelt  unserem I in «bitte», norddeutsch gesprochen. Diesen Laut kennt auch das Ukrainische, aber er schreibt sich «И». Das umgekehrte N wiederum steht im Russischen für ein langes «I» wie in «Sieb». Das alles ist nicht so kompliziert, wie es tönt, und soviel war mir bekannt. Neu aber war mir, dass der Buchstabe Г, der im Russischen unserem G entspricht, auf Ukrainisch wie ein rauhes H gesprochen wird, etwas zwischen unseren Lauten H und CH. Die Gregorstrasse lautet also tatsächlich Hrihoria oder Chrichoria und ich wohne an der Ihorivka- oder Ichorivskastrasse. Wie sagte doch Morgenstern: «Einst wird finden die Historie: Dieser Kaffee barg Zichorie». So ungefähr...

 

Der berühmte, aus der Ukraine stammende Pianist Владимир Горовиц heisst bei uns also zu Recht Vladimir Horowitz, obwohl er auf Russisch Gorowitz genannt wird.

 

Montag, 13. September

 

Meine Wohnung liegt nicht weit vom Dnjepr, aber um dahin zu gelangen, muss ich eine 10-spurige Schnellstrasse – nein, nicht überqueren, das wäre lebensgefährlich, sondern unterqueren. Auf der anderen Seite hat es zwar einen Fussgängerweg, aber neben diesem Traffic zu bummeln ist nicht allzu romantisch. Ich fuhr darum mit der Metro ein Stück hinaus, weiter als die Arsenalnagegend, wo ich kürzlich war. Die Metro taucht kurz vor dem Dnjepr aus der Unterwelt auf und überquert den Fluss auf einer Brücke im Tageslicht. Da sieht man, wie breit dieser Fluss ist und dass er mehrere Arme hat, zwischen denen Inseln liegen. Auf der ersten Insel stieg ich aus, Hydropark heisst der Ort. Hier gibts Strände, Freizeit- und Sportanlagen, vieles ist in die Jahre gekommen, um nicht zu sagen verwahrlost. Faszinierend fand ich eine Ansammlung von rostigen Geräten, an denen ein paar braungebrannte Männer mit dicken Bäuchen trainierten – ein Freiluft-Gym sozusagen.

 

An den Stränden waren nicht viele Leute, wahrscheinlich ist am Wochenende hier mehr los, im Sommer sowieso. Baden im Dnjepr ist – soviel ich weiss – wegen der schlechten Wasserqualität verboten. 

 

Auf der Insel gibts auch ein Freiluft-Miniaturenmuseum, eine Art ukrainisches Melide, mit berühmten Bauten im Masssatb 1:33. Interessant, sich die Kathedralen und anderen berühmten Bauwerke verkleinert und von oben anzusehen. Das Haus der Chimären zum Beispiel sieht man so als Ganzes und von allen Seiten, was sonst nur mit einer Drohne oder einem Helikopter möglich wäre.

 

Eigentlich wollte ich auf dem Rückweg noch im Höhlenkloster absteigen, das an der gleichen Metrostrecke liegt. Aber nein, nach bereits mehr als drei Stunden Umhergebummle meldeten meine Beine ans Gehirn, dass das auch an einem anderen Tag möglich wäre. Ich gab ihnen recht und kehrte auf direktem Weg zurück. Ich merke es hier mehr als zu Hause, dass ich nicht mehr 35 bin...

 

Dienstag, 14. September 

 

Heute Mittag fuhr ich wieder mit dem Funikuljer zur Michaelskirche hoch und spazierte im grosszügig angelegten und gepflegten Park dem Hügelkamm entlang. Eine wunderbare Promenade mit Ausblick auf Dnjepr und die entfernteren Stadtteile. Die Kyiver lieben anscheinend Springbrunnen. Schon im Marijinskyj-Park bewunderte ich welche und hier hat es auch ein eindrückliches Exemplar. Sie heissen hier franzuzski fontan, französischer Brunnen. Versailles lässt grüssen…

 

Über eine elegant geschwungene Fussgängerbrücke mit Glasgeländer führt der Weg zur monumentalen Arkade der Völkerfreundschaft, die stalinistisch anmutet, aber erst Anfang der achtiger Jahre gebaut wurde. Für die Menschen hier ein vergiftetes Geschenk, das sie am liebsten ignorieren. Schon auf der Taxifahrt vom Flughafen erblickte ich den Riesenreifen aus Stahl und zeigte darauf. Die Reaktion des Fahrers liess nicht auf sich warten: нет дружбы, njet druzhbü, rief er aus, nichts Freundschaft, und gestikulierte mit den Armen.

 

Von der Freundschaftsarkade gehts auf kurzem Weg an der Philharmonie vorbei den Hang hinunter zum Majdan, dem Platz der Unabhängigkeit im Stadtzentrum.

 

Auf dem Heimweg verlief ich mich in meinem Quartier und musste Googlemaps konsultieren, um nach Hause zu kommen. Aber dabei entdeckte ich an einer Strassenecke einen Marktstand mit Früchten: Zwetschgen, Trauben, Birnen und Himbberen. Ich stürzte mich darauf und deckte mich ein. Es sind richtige, reife, schmackhafte Früchte, kein Vergleich mit dem mageren Angebot im Supermarkt. Also doch, das gibts auch in Kyiv. Und die Marktfrau versicherte mir, dass sie jeden Tag an dieser Ecke stehe. 

 

Mittwoch, 15. September

 

Ich hatte Kristina vor zwei Jahren kennengelernt auf einer Tourguide-Plattform und mit ihr einen Nachmittag auf dem Gelände des Höhlenklosters verbracht. Sie ist von Beruf Schauspielerin, arbeitet aber auch als Tourguide. Sie hat zwei Jahre in Deutschland studiert und spricht fliessend Deutsch mit einem lustigen, singenden Akzent. Ihre Muttersprache ist Ukrainisch, aber sie spricht natürlich auch Russisch. Plus Englisch und ein wenig Französisch, ein Sprachentalent.

 

Wir machen einen Bummel durch alte Stadtviertel, wo es zahlreiche bemalte Fassaden hat. Kyiv ist berühmt für seine Streetart, die von einheimischen, aber auch von internationalen Streetart-Künstlern geschaffen wurde. Die Sujets sind nicht immer auf Anhieb verständlich, was in der Kunst ja nichts Ungewöhnliches ist. Zum Teil sind zeitgenössische politische Themen mit Metaphern aus Geschichte und Legenden dargestellt. 

 

Unser Spaziergang führt an einem kleinen Park vorbei, der von witzigen Vogelskulpturen gesäumt wird. Sie verkörpern kluge Einsichten über die Intelligenz, die auf Metalltafeln am Sockel aufgezeichnet sind. In der Reihenfolge der Bilder lauten diese Vogelweisheiten:

 

Intelligenz rettet die Zukunft

Intelligenz erzieht die Gegenwart

Intelligenz erinnert sich an die Vergangenheit

Intelligenz hat Würde

 

Kristina führt mich in ein hübsches Café im Odessa-Stil. Zum ersten Mal trinke ich den berühmten Kwas – ein in Osteuropa verbreitetes Erfrischungsgetränk, das durch Gärung aus Brot hergestellt wird. Leicht säuerlich und lecker. Und dann noch ein Glas Mors, ein Getränk aus Beerensaft, dem der Sud des gekochten Fruchtfleischs zugegeben wird. Auch süss-säuerlich und sehr lecker.

 

Auf dem Rückweg bummeln wir durch einen alten, schön gelegenen Stadtteil, der ziemlich verwahrlost war und nun renoviert und – wohl oder übel – gentrifiziert wurde. Die Fassaden sehen super aus, fast zu bunt, findet Kristina. Man sieht, dass die Maler Spass daran hatten, mit den klassizistischen Simsen, Vorsprüngen und Fiorituren zu spielen und sie farblich hervortreten zu lassen. Solche Sanierungen von ganzen Stadtteilen seien dem Kyiver Bürgermeister zu verdanken, der zwar umstritten ist, aber für die Stadt auch Gutes tut. Ich hatte vergessen, wer das ist: der prominente Ex-Boxer Vitali Klitschko.

 

Schliesslich zeigt mir Kristina einen grossen Markt, der nicht weit von meinem Domizil liegt. Hier gibts Früchte, Gemüse, Wurst und Käse. Noch besser und vor allem viel grösser und reichhaltiger als der Stand gestern an der Strassenecke. Da werde ich in den nächsten Tagen sicher mal hinpilgern.

 

Donnerstag, 16. September: Ausflug zu den Dnjepr-Auen

 

Tatiana hatte mir angeboten, einmal aufs Land hinauszufahren, um die Umgebung kennenzulernen. Ich treffe sie an der Metrostation Dnipro und lasse mich überraschen. Wir fahren stadtauswärts Richtung Süden, durchqueren moderne Aussenquartiere mit Wohntürmen à la HLMs in französischen Banlieues, Einkauszentren, Outlet-Märkten mit Discountklamotten. Alles ist flach, dünnbesiedelt. Wir durchqueren eine Gegend, wo viele Kyiver ihre Datschas haben – das Wochenendhaus oder -häuschen auf dem Land ist auch in der Ukraine eine verbreitete Tradition. Wer es vermag, leistet sich eine Zufluchtsstätte auf dem Land, und das sind offenbar nicht nur die Reichen. Diese sowieso, und man sieht den Villen und ihren Zäunen an, dass hier nicht nur Armut herrscht. 

 

Nach einer Dreiviertelstunde verlassen wir die Autobahn und fahren auf schmalen, holprigen Strassen durch kleine hübsche Dörfer mit weit auseinanderliegenden Häusern und Gehöften, die vor dreissig oder fünfzig Jahren vermutlich nicht anders ausgesehen haben. Der Strassenbelag wird noch schlechter und verschwindet dann ganz, das letzte Stück auf einem Schotterweg bewältigt Tatianas Škoda im Schritttempo. Wir halten bei einer alten Mühle, aus dunklem Holz gebaut. Bis vor kurzem stand sie hier allein in der Landschaft, nun breitet sich unmittelbar dahinter ein hässlicher Flachbau aus. «Offenbar will hier jemand einen Touristenpavillon betreiben», ägert sich Tatiana. 

 

Zu Fuss überqueren wir ein Stoppelfeld, an dessen Ende sich eine kleine Holzkapelle abzeichnet. Die Tür ist offen und wir treten ein. Der kleine achteckige Innenraum verflüchtigt sich in die Höhe des spitzen Runddaches. An den Wänden hängen lauter kleinformatige Ikonen, oft paarweise. Wahrscheinlich sind es die Trauungsbilder von Verstorbenen, meint Tatiana. Solche Kleinikonen werden in der orthodoxen Tradition dem Brautpaar übergeben und bilden für den Rest des Lebens Mahnmale der Eheschliessung.

 

Gleich hinter der Kapelle fällt das Gelände ab und der Blick weitet sich ins Tal hinab. Für einen Augenblick glaube ich zu träumen: Vor mir öffnet sich eine Auenlandschaft im breiten Flussbett des Dnjeprs, wie ich sie noch nirgends gesehen habe. Kleine und grössere, grün bewachsene oder karge Inseln schwimmen oder schweben auf dem glatten Gewässer dieses Flusses, der sich hier wie ein langgezogener See ausnimmt, den keine Welle kräuselt. Ich bin perplex und glaube mich um 100 oder 150 Jahre zurückversetzt. Ich kenne solche Landschaften nur von alten Stichen aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert. So muss es zu Goethes Zeiten nördlich von Basel am Rhein ausgesehen haben. Ich mache natürlich ein paar Fotos, aber bin mir bewusst, dass sie nicht wiedergeben können, was ich hier wahrnehme.

 

Tatiana überrascht mich mit leckeren Snacks, die sie angeblich in ihrem Kühlschrank übrig hatte. Dazu eine Dose Kwas und obligaten Wodka. Sie trinke nicht, weil sie fahre, beteuert sie, aber ich müsse unbedingt das ukrainische Trink- und Essritual befolgen. «Wir sind eine Nation von Trinkern», sagt sie, «aber wir trinken den Wodka zum Essen, nicht danach.» Sie giesst die Menge eines Schnapsglases in den Becher und zeigt mir, wie es geht: Ich muss es in einem Schluck leertrinken und dann sofort einen Bissen in den Mund stecken und essen. Ich bestehe die Trinkprobe und finde sogar Gefallen daran, obwohl ich sonst kaum je Hochprozentiges trinke.

 

Samstag, 18. September

 

Ich bummle zum Markt, den mir Kristina kürzlich gezeigt hat. Auf dem Hinweg verlaufe ich mich, entdecke aber interessante Strassenzüge mit originellen Gebäuden und hübschen Ecken, die ich noch nicht kannte. All das gehört zum Podil, der Unterstadt, wo ich wohne. Eine Stadt für sich…

 

Der Markt heisst Житний рынок, Zhitnii rynok, was Lebensmarkt bedeutet. Seit dem 12. Jahrhundert finden auf diesem Platz Märkte und Messen statt. Es war früher ein wichtiger europäischer Handels- und Umschlagplatz – schon vor bald tausend Jahren. Die riesige Markthalle wurde in den achtziger Jahren gebaut. Darin werden vor allem Lebensmittel, aber auch Kleider und Haushaltwaren verkauft. 

 

Gemüse und Früchte findet man draussen, an kleinen Ständen oder auf dem Boden ausgebreitet von Frauen, die daneben auf einem Hocker sitzen. An den grösseren Ständen erkennt man die Händler, die auch Exotisches anbieten und einem möglichst viel andrehen wollen. Ich kaufe lieber bei den Frauen mit den kleinen Ständen. Meistens verkaufen sie Produkte aus ihrem eigenen Garten, sagte mir Kristina. So sieht es auch aus. Manche haben nicht viel Ware dabei, eine Kiste Kartoffeln, ein paar Kilo Zwetschgen, drei oder vier Handvoll Tomaten, fünf Schalen Himbeeren. Ich frage nach dem Preis der Himbeeren. 160 Hrywnja, sagt die Marktfrau, das sind nicht ganz sechs Franken. Das scheint mir – für hiesige Preise – etwas viel für eine Schale, die höchstens ein Pfund enthält. Aber nein, es ist der Kilopreis! Ich decke mich ein mit reifen Zwetschgen, Fleischtomaten, Äpfeln und Himbeeren. Beim Händler leiste ich mir als Luxus Aprikosen und erfahre, dass sie aus Odessa kommen – also auch einheimischen Ursprungs sind. Nun kann ich meinen Früchtehunger für die nächsten Tage stillen. Und kann, wenn nötig, jederzeit wiederkommen, der Markt findet täglich statt.

 

Auf dem Rückweg finde ich den schnelleren Weg, der mich in 10 Minuten zurück in meine Wohnung bringt. 

 

Mittwoch, 22. September

 

Seit Montag ist es richtig kalt geworden, eisiger Wind und das Thermometer bei sechs bis sieben Grad machen es ungemütlich, in Sommerkleidern durch die Stadt zu bummeln. In der Wohnung habe ich einen Elektroofen, der ein wenig Wärme abgibt. Aber für draussen bin ich nicht ausgerüstet. So fuhr ich gestern ins Zentrum und fand im Globus (das grosse Einkauszentrum am Majdan heisst wirklich so) einen türkischen Klamottenladen mit guter Auswahl und passablen Preisen. Ich kaufte mir zwei Hoodies und einen dicken Schal aus wärmendem Acryl. Damit fühle ich mich deutlich besser…

 

Heute traf ich mich wieder mit Kristina. Ich wollte gern mal eine Tramfahrt machen mit den altertümlichen Strassenbahnen, die hier am Kontraktova-Platz abfahren. Wir nahmen die Nr. 12, die wie die anderen Linien auf breiten Schienen durch die Gegend rattert. Bei uns sind derartige Gefährte allenfalls im Verkehrsmuseum zu besichtigen, hier erfüllen sie seit Jahren und bis zum heutigen Tag brav ihren Dienst. Das Geschütteltwerden fühlt sich weniger schlimm an, als es aussieht, und das Quietschen der Räder ist nicht viel anders als bei uns. Das Besondere an dieser Linie, sagte mit Kristina, ist, dass sie einen Wald durchquert. Obschon sie seit Jahren nicht mehr rentabel ist, wurde der Betrieb aufrechterhalten, weil die Bahn in eine ehemalige Datschagegend führt, wo sich heute ein Erholungsgebiet befindet und Leute, die es sich leisten können, gerne ihre Villen bauen.

 

Eine Fahrt durch den Wald, na ja, dachte ich, das wird ein Wäldchen sein von ein paar hundert Metern. Aber weit gefehlt. Es ist ein richtiger Wald, den das Tram durchquert, und die Fahrt dauert etwa eine halbe Stunde! Es gibt ein paar wenige Haltestellen, aber unser Vehikel hielt nie an, offenbar wollte niemand aus- oder einsteigen. 

 

Die Endstation heisst Puschtscha Vadiza. Es sind nur ein paar Schritte bis zu einem idyllischen See, der in dieser Jahreszeit allerdings nicht mehr zum Bade lädt, aber doch noch ein paar Spaziergänger anzieht. Auch der Wald, den wir durchquerten, sei ein beliebtes Ausflugsgebiet, erzählt Kristina. Vor ein paar Jahren spielte sie in einer Serie mit, die in einem der alten Häuser hier in der Nähe gedreht wurde. Ob ich die Häuser sehen wolle? Ja klar, obwohl es nicht gerade Spazierwetter ist. Es ist nicht allzu weit und der Weg dorthin lohnt sich: Alte Holzhäuser mit verblichenen Anstrichen und ziselierten Brüstungen und Alkoven stehen vereinzelt da und blicken uns an wie vergessene Kulissen aus einer anderen Zeit. Zum Teil sind sie noch bewohnt, andere wirken verlassen. Daneben erheben sich neue Behausungen aus Stein, Datschas oder kleine Villen von Städtern, die Landluft atmen wollen.

 

Für die Rückfahrt nehmen wir eine sogenannte Marschrutka, einen Kleinbus, wie sie hier allenthalben verkehren. Es sind uralte Transportvehikel, die notdürftig mit Fenstern und Sitzen ausgestattet wurden. Sie verbinden viele Bus- und Metrohaltestellen, indem sie Abkürzungen nehmen und die Fahrgäste schneller ans Ziel bringen. Das Fahrgeld beträgt 10 Hryvnia (etwa 30 Rappen) und wird dem Chauffeur beim Einsteigen auf die Hand gegeben. Diese Fahrzeuge stammen noch aus der Ära Poroschenko, erklärt mir Kristina, dem früheren Präsidenten, der 2019 von Selenskyj abgelöst wurde. Er ist bis heute einer der reichsten ukrainischen Oligarchen und verfügt über milliardenschwere Unternehmen, die auch in der Auto- und Taxibranche tätig sind. Mit den maroden Marschrutkas allein dürfte er sein Vermögen aber nicht zusammengescheffelt haben.

 

Die Metro führt uns bis zur Teatralna, der schönsten der Kyiver Metrohaltestellen. Von der mit Leuchtern behangenen Gewölbehalle öffnen sich links und rechts Arkaden zu den Gleisen, in deren Bogen Mosaiken wichtige Gestalten der ukrainischen Geschichte darstellen.

 

Wir beschliessen unseren Ausflug mit ukrainischen Spezialitäten in einem hübschen Restaurant in der Nähe. Kristina bestellt für mich noch ein typisches Getränk, das ich probieren soll: Nastojka obljepichovaja heisst auf Deusch Sanddorntinktur, würde aber besser Sanddornlikör genannt. Säuerlich und erfrischend, mit deutlich weniger Alkohol als Wodka.

 

Kristina ist öfter mal in Deutschland und ich frage sie, ob sie dort Projekte hat. Sie lacht: «Nein, aber mein Freund, äh, mein Mann wohnt dort.» Er ist Banker und lebt in Darmstadt. Letztes Jahr war sie Anfang März bei ihm und wurde vom Lockdown erwischt: Sie musste sechs Monate dort bleiben. Das habe dazu beigetragen, dass sie sich entschlossen hätten zu heiraten. Sie planen aber nicht, in nächster Zeit zusammenzuziehen. «Du bist doch sehr mit Kyiv verbunden», sage ich ihr, «als Touguide, als Schauspielerin, ich kann mir dich nicht in Darmstadt vorstellen.» Sie gibt mir recht: «Dort ist es mir schnell langweilig.» Die globalisierte Welt macht auch vor ehemaligen Sowjetrepubliken nicht halt.

 

Freitag, 24. September

 

Um 13 Uhr fährt mein Zug nach Charkiw, die zweitgrösste Stadt der Ukraine, im Osten des Landes gelegen, nur etwa 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Anja, die mir seit einem guten Jahr per Skype Russischstunden gibt, wohnt hier und hat mich eingeladen. Ich zögere zuerst, weil es von Kyiv 500 Kilometer entfernt ist und die Fahrt mit dem Zug fünf Stunden dauert. Doch als Anja insistiert und  mir anbietet, im Landhaus, wo sie mit ihren Eltern lebt, zu übernachten, entschliesse ich mich zu fahren. Ich solle wenigstens zwei Nächte bleiben, ermutigt mich Anja, es gebe so vieles, das sie mir zeigen wollten.

 

Die Fahrt mit dem bequemen ICE gibt Eindrücke von der Weite dieses Landes. Die Landschaften, die an meinem Fenster vorbeiziehen, erinnern mich an Reisen durch Frankreich: Kilometerlange grüne Flächen mit Büschen, Teichen und Wiesen, wenig bebauten Feldern, viel Wald und kaum Häusern – noch weniger als in Frankreich. 

 

Anja und ihr Vater Igor holen mich am Bahnhof ab. Sie wohnen 30 Kilometer ausserhalb der Stadt, in einem Dorf mit 10´000 Einwohnern. Es besteht vor allem aus eingeschossigen Häusern mit viel Umschwung. 100 Meter hinter ihrem Haus liegen die Gleise einer Bahnlinie, die kaum mehr benutzt wird. Nur zu den Stosszeiten am Morgen und am Abend verkehren noch ein paar Regionalzüge nach Charkiw. In Sowjetzeiten führte die Bahn über die russische Grenze bis nach Moskau – fast 800 Kilometer weit.

 

Ljena, Anjas Mutter, hat einen vegetarischen Borsch vorbereitet mit Gemüse, das in ihrem Garten wächst. Anja spricht nur noch Russisch mit mir und übersetzt nur auf ausdrücklichen Wunsch. Igor kann ein wenig Englisch, ihre Mutter überhaupt nicht. So radebrechen wir uns mit wenigen Wörtern und vielen Gesten durch eine Kennenlernkonversation, die von einigen Schluck Cognac, der zum Tee serviert wird, beflügelt wird.

 

Ich bin froh um die Pullover, die ich in Kyiv gekauft habe. Denn hier heizen sie nur im Winter, wenn es sehr kalt ist. Die gegenwärtigen 6 oder 7 Grad Aussentemparatur reichen dazu nicht aus. Grund ist der Gaspreis, der sich seit Sowjetzeiten um das Vierzigfache erhöht hat. Angeblich komme das Gas aus Europa, und Europa bezieht es aus Russland. Ob Russland nicht an die Ukraine liefern will oder die Ukraine nicht von Russland importieren will, habe ich nicht verstanden. Aber der Gaspreis ist eines der heissen (oder kalten) Themen, die die Leute direkt betreffen. Nebenbei fällt mir auf: Sie sagen Europa, wenn sie Westeuropa meinen. Oder die EU. Das wird nicht so klar. Aber es tönt nicht so, als zählten sie sich selber auch zu Europa.

 

Samstag, 25. September

 

Anjas Cousin Vitali kommt vorbei. Er soll Anja und mich in die Stadt fahren, da Anja nicht Auto fährt. Es gibt auch Busse, aber das wollen sie mir offenbar nicht zumuten. Was ich erst im Laufe unseres Stadtbummels realisiere: Vitali bleibt den ganzen Tag mit uns. Er ist ein offener, neugieriger junger Mann, der ein paar Brocken Englisch spricht. Er will auf dem Markt an einem besonderen Stand diverse Teekräuter kaufen, und so führen mich die beiden zu einem gigantischen Marktgelände, wo wir zuerst den Flohmarkt durchstreifen. Auf einer Fläche, die unseren Petersplatz klein erscheinen lässt, liegen die zum Verkauf angebotenen Habseligkeiten nach Gegenständen gruppiert und auffällig hübsch aufgereiht auf dem Boden. Von verblichenen Ikonen bis zu ausrangierten Armeehelmen reicht das Spektrum der Flohmi-Angebote, die einem wie ein nostalgischer Lebensteppich zu Füssen liegen.

 

Die nächste Station ist der Lebensmittelmarkt, der sich zum Teil in Strassenständen unter offenem Himmel, zum Teil in der imposanten roten Markthalle darbietet. Hier findet Vitali den Kräuterstand mit einer bunten Auswahl an Tees und Gewürzen, die offen in Plastictüten feilgeboten werden.

 

Weiter gehts über Plätze, Strassen, Promenaden, vorbei an Kirchen, Denkmälern und repräsentativen Gebäuden, die dem Auge einen Mix aus Klassizismus, Jugendstil und «stalinskiy Barock» vorführen. Über einem prunkvollen Tor steht «Salon schwejzarskich tschassow», Salon der Schweizer Uhren, und im Schaufenster daneben erblickt man einen Uhrmacher am Werkpult. Vor einem Museum posieren zwei Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg. Vitali macht mich darauf aufmerksam, dass die Kanonenrohre genau auf die gegenüberliegende Strasse gerichtet sind. Es ist die Strasse, die zur russischen Grenze führt.

 

Sonntag, 26. September

 

Sonntagsspaziergang en famille. Anja und ihre Eltern führen mich zum kleinen See in der Nähe ihres Wohnortes. Er werde jedes Jahr kleiner, sagen sie, das Wasser ziehe sich zurück, aber sie wissen nicht warum. Lichter Wald umgibt den See, Birken und andere Laubbäume, auch viele Nadelbäume, die ich nicht kenne. Kleine Gruppen von Pilzsammlern begegnen uns, prall gefüllte Taschen hängen an ihren Armen. Nach dem vielen Regen gibts reichlich Pilze, sagt Igor. Er kennt ein paar Sorten, scheint aber kein leidenschaftlicher Sammler zu sein. Am anderen Ufer steht ein Fischer bis übers Knie im Wasser. Ein paar Enten schwimmen herum. Es hat nicht mehr viele, sagt Igor, weil die Jäger sie abschiessen. Er habe sie kürzlich gefragt, warum sie das täten. Es gebe zu viele, war ihre Antwort.

 

Am Nachmittag will Anja mir die Parkanlagen zeigen. Igor fährt uns zu einer Seilbahn, die mit kleinen, offenen Zweierkabinen zwei Stadtteile verbindet. Linkes Bein zuerst und mit der rechten Hand festhalten: Mit dieser Anweisung werde ich vom Aufsichtsmann in die fahrende Kabine geschubst und Anja schafft es allein. Türe zu und schon schweben wir über einem grünen Abgrund, der von Feldern, Wäldern und ab und zu einer Strasse durchzogen ist. Die Fahrt dauert etwa 20 Minuten und führt uns zu einer riesigen Parkanlage mit Fontänen, Wasserspielen, lauschigen Pavillons, da und dort von Tierskulpturen bevölkert – eine Gruppe von Flamingos ist lebensecht auf einer Wiese installiert und auch die Bremer Stadtmusikanten haben sich zum Denkmal aufgeschichtet.

 

Eine weitere Parkanlage, zu der mich Anja hinführt, wartet mit Vergnügungsattraktionen auf – vom Riesenrad bis zur Zuckerwatte ist alles vorhanden, was Kinderherzen und Elternportemonnaies zum Schmelzen bringt. Zum Schluss erreichen wir noch eine dritte grosszügige Grünanlage mit Teichen und nachts beleuchteten Velowegen. Hier befindet sich auch ein in Kreuzform angelegtes Kaltwasserbecken, hinter dem eine mit Heiligenbildern geschmückte Wand deutlich macht, dass der Sprung ins kalte Nass nicht nur der Gesundheit dient, sondern einem religiösen Brauch entspricht, dessen Bedeutung ich nicht kenne. Die auf dem Foto daneben stehende Bikinischönheit zeigt, dass der Brauch lebendig ist.

 

Montag, 27. September

 

Anja ist am Vormittag mit Russischlektionen beschäftigt. Igor will mir unterdessen die Gegend zeigen, wo er als Kind den Kindergarten besuchte. Warum ausgerechnet seinen Kindergarten?, frage ich mich, aber ich lasse mich gerne überraschen. Wir fahren ein kleines Stück aufs Land hinaus und parken bei einem Wäldchen – in the middle of nowhere, so scheint es. Aber nein, ein paar Schritte weiter erblicke ich ein ansehnliches, zweigeschossiges Gebäude, von einem grossen Park mit Spielplatz umgeben. «Das war mein Kindergarten», sagt Igor. Man sieht und hört keine Kinder, aber er sei immer noch in Betrieb. Vielleicht sind jetzt Ferien oder sie haben wegen Corona reduzierte Öffnungszeiten. Weit und breit gibts keine weiteren Gebäude, nur Wald und Grünflächen. «Ist das nicht viel schöner als die städtischen Kindergärten in den grossen Betonblöcken», fragt Igor und erwartet keine Antwort. 

 

Wir durchqueren den Park und bleiben stehen vor mehreren imposanten Gebäuden in sowjetischem Baustil, die vor uns aufragen. «Charkiwische staatliche veterinärmedizinische Akademie» steht auf dem grössten. Es wirkt menschenleer wie auch die umliegenden Bauten. «Das war früher ein Campus mit über zweitausend Studenten», sagt Igor. «Heute ist hier nichts mehr los.»

 

Er führt mich zum Sportplatz, der zum Campus gehört. Auch er, verlassen und seit Jahren unbenutzt. Zwei rostige Gestelle, die an den beiden Enden des Platzes stehen geblieben sind,  erinnern daran, dass wir uns auf einem Fussballfeld befinden. Und richtig, an den Längsseiten reihen sich die verwitterten Überreste der Tribünensessel, auf denen schon lange niemand mehr gesessen hat. Eine surreale Anlage, die aus einem Film von Alain Resnais stammen könnte.

 

Mehrmals sagt Igor vor sich hin: «Ist es nicht schade, dass hier nicht mehr gespielt wird?» Ich spüre in den wenigen Worten, die er von sich gibt, die Traurigkeit eines Mannes, der mit Hoffnungen aufgewachsen ist, die sich nicht erfüllt haben. Vielleicht ist es das, was er mir zeigen wollte? Mir einen Blick vermitteln in eine Vergangenheit, von der heute nur noch Enttäuschungen übrig sind?

 

Am Montagnachmittag führen mich Anja und ihr Vater nochmals in die Stadt, in ein Viertel, das ich noch nicht kenne. Ich kann nicht mehr soviel aufnehmen, und meine Beine geben deutliche Zeichen, dass es ihnen langsam reicht. Anja merkt, dass ich müde bin, und meint, ich sei es wohl nicht gewohnt, so lange Stadtspaziergänge zu unternehmen. Sie und ihre Eltern würden das lieben und machten das öfter zusammen.

 

Zu Hause gibts für mich noch eine Portion Vareniki, damit ich nicht mit leerem Magen die Rückreise nach Kyiv antreten muss. Igor und Anja bringen mich zum Bahnhof, Ljena entschuldigt sich, dass sie nicht mitkommt, sie habe heute viel Arbeit bekommen und sei damit noch nicht fertig. 

 

Die drei haben mich drei Tage lang von früh bis spät verwöhnt und umsorgt. Auch unterwegs durfte ich nicht ein einziges Mal den Kaffee bezahlen, wenn wir mal einkehrten. Wenn ich es versuchte, kam von Anja nur ein dezidiertes «Njet», wie ich es an ihr nicht kannte.

 

Mittwoch, 28. September

 

Mein letzter Tag in Kyiv. Ich unternehme nichts Grosses mehr, mach ein paar Spaziergänge, geniesse die Umgebung. Kristina hatte mir ein Lokal empfohlen, das es bei mir um die Ecke gibt: Пивбар (Pivbar) bedeutet Bierbar. Ein junges Team hat vor ein paar Jahren diese trendigen Food- und Bierlokale gegründet und betreibt mittlerweile ein halbes Dutzend davon in Kyiv. Ich versuche fritierte Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen und als Dessert einen flambierten Apfelstrudel mit Vanille-Eis. Sehr lecker. Dazu ein würziges lokales Bier. Eine originelle Spezialität hier sind Bierreisen: eine Degustation verschiedener Biere aus der Ukraine und anderen Ländern. Es gibt ein paar Standardreisen zur Auswahl, man kann sie sich aber auch nach eigenem Gusto zusammenstellen. 

 

Am Mittwochmorgen dann den letzten Cappuccino in meinem Stammcafé, 50 Meter von meiner Wohnung. Was es mit dem Schweizerkreuz am Fenster und dem Logo «Blasercafé» auf sich hat, habe ich inzwischen herausgefunden. «Blasercafé» ist ein Berner Familienbetrieb, der 1922 als  Kaffeehandelsgeschäft in Zürich gegründet wurde und seit 1929 in Bern angesiedelt ist. Er wird heute in der vierten Generation geführt. Die Firma betreibt eine Rösterei, beliefert vor allem Gastrobetriebe und entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einem Allrounder und Kompetenzzentrum im Kaffeebusiness. Offenbar exportieren sie auch in die Ukraine. 

 

Katerina und Sergej, die seit 10 Jahren «mein» Café führen, sind jedenfalls stolz auf ihre Produkte aus der Schweiz und ihr Kaffee schmeckt wirklich vorzüglich. Ich frage sie, ob ich ein Foto machen darf. Katerina will nicht recht, sie sei nicht gut angezogen, und die junge Angestellte verkriecht sich auch in eine Ecke. Sergej lacht und meint: Die Frauen tun immer so kompliziert für ein Foto. Schliesslich willigen sie aber ein und ich mache ein Bild der drei hinter ihrer Theke. Katerina will das Foto sehen und verwirft die Hände. Nein, das gehe gar nicht, wie sie guckt und ihre Frisur. Ich mach ein weiteres Bild, aber sie ist noch immer nicht zufrieden. Sie macht sich die Haare zurecht und sagt der Angestellten, sie solle doch draussen nach den Gästen schauen. Mir flüstert sie zu: Das Mädchen ist nur eine temporäre Mitarbeiterin. Und jetzt verstehe ich, worum es geht: Sie will mit ihrem Mann allein auf dem Bild sein, nicht mit der hübschen Djewuschka (Mädchen), die ihr die Show verdirbt. Also gut, noch ein Bild – und diesmal ist auch Katerina zufrieden.

 

Donnerstag, 30. September

 

Pünktlich um 6 Uhr 45 trifft das Taxi vor meinem Haus ein. Ein junger Fahrer, der kein Wort Englisch spricht, lädt meinen Koffer ein und fährt mich durch den morgendlichen Stadtverkehr. Sein Fahrstil auf der dreispurigen Autobahn ist abenteuerlich. Ich habe noch Igor in den Ohren, der an einer Kreuzung in Charkiw sagte: Bei uns fährt jeder, wie er will; aber er selber fuhr sehr vorsichtig und gesittet. Das kann ich vom jungen Uberfahrer nicht behaupten. Er überholt mal links, mal rechts und fährt dem vor ihm fahrenden Auto mit lichthupenden Scheinwerfern so nahe ans Heck, bis es die Bahn freigibt. Ich bin erleichtert, als wir am Flughafen eintreffen.

 

Im Vergleich dazu ist der Flug zurück ein Klacks: Nach zwei Stunden überfliegen wir den Bodensee, der in der Morgensonne glitzert, und zwanzig Minuten später betreten meine vom unbequemen Sitzen etwas wackligen Beine wieder soliden Schweizer Boden.

© 2021 Christoph A. Müller

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